Die Liebe atmen lassen
gegeneinander. Menschen mit agonaler Disposition streiten und kämpfen mit anhaltender Verve für oder gegen etwas oder jemanden, und der Streit gibt ihrem Leben immerhin wieder Sinn: Er stellt einen Zusammenhang zu einem Gegenüber her, wenngleich mit negativen Vorzeichen; er sorgt für Berührung, wenngleich im Sinne einer Reibung von Seelenräumen aneinander, die unter Verletzungsgefahr aufeinander stoßen und sich voneinander abstoßen, zuweilen mit offener körperlicher Gewaltanwendung. Dass auch die Auseinandersetzung zwischen Menschen Sinn vermitteln kann, liegt daran, dass die gegensätzlichen Pole als zusammengehörig erfahren werden, und dies selbst dann, wenn die Zusammengehörigkeit als »negativ« bewertet wird. Zu dieser verneinenden Form von Beziehung und zur negativen Sinngebung, die der positiven an Intensität und Kontinuität in nichts nachsteht, tendieren auch Liebende, die sich spinnefeind geworden sind: Eine solche Feindschaft stellt August Strindberg in seinem Stück Totentanz (1901) eindrucksvoll auf die Bühne, ironisiert von Friedrich Dürrenmatt in Play Strindberg (1969). »Strindbergisch« wird zum Inbegriff einer völlig zerrissenen Beziehung, wie zwei Dichter sie mit aller Konsequenz realisieren: Ingeborg Bachmann und Paul Celan ( Herzzeit , Briefwechsel, 2008).
6. Die ausschließende Beziehung erst vollzieht die gänzliche Negation, die oft einseitige Ablehnung und Aufkündigung jeder Art von Beziehung. Die Abweisung jeglicher Bindung eröffnet einen Raum absoluter Freiheit des Umgangs mit dem Anderen. Da er zum Nichts herabsinkt, lässt sich ihm alles Mögliche antun. Kategorisch wird er aus dem eigenen Leben ausgeschlossen, ignoriert und vielleicht »nicht einmal mehr ignoriert«, selbst einer Auseinandersetzung nicht mehr für werterachtet. Nicht selten geht dem Ausschluss eine Beziehung voraus, die ihn erst spürbar macht; schmerzlicher als bei der funktionalen Beziehung wird der Mangel an irgendwelcher Berührung empfunden. Im Unterschied zur Gleichgültigkeit der Funktionalität geschieht die Abweisung meist gezielt, vielleicht auch vom Ausgeschlossenen selbst provoziert. Wilde Attacken gegen den Ausschließenden, auch des Ausgeschlossenen gegen sich selbst, können noch eine negative Aufmerksamkeit erzwingen. Die Verweigerung jeglichen menschlichen Zusammenhangs aber stürzt ihn in die gähnende Leere völliger Sinnlosigkeit. Steht ihm keine andere Beziehung mehr zur Verfügung, versinkt der Ausgeschlossene in sozialer Isolation, die tödlich sein kann.
In der Liebe selbst wird für den zeitweiligen Ausschluss des Anderen das Machtmittel des Liebesentzugs eingesetzt, und nicht wenige ehemals Liebende schließen sich gegenseitig aus ihrem weiteren Leben aus, »füreinander gestorben« schon zu Lebzeiten. Auf Ausschluss zielt in Gruppen das Mobbing , wenn der Mob , also »alle«, den Einen wegekeln, der als störend empfunden und vom Kommunikationsfluss abgeschnitten wird (Robert I. Sutton, Der Arschloch-Faktor , 2006). Schon Kinder schließen andere Kinder häufig vom Spiel aus. Ausgeschlossen werden »Ausländer« in einer Gesellschaft, die ihnen jede Zugehörigkeit verweigert. Ein verheerender Ausschluss im historischen Maßstab war derjenige der Juden in Deutschland und andernorts, der in den Holocaust mündete. Nach vollzogener Tat zur Rechenschaft gezogen, war die einzig denkbare Strafe für die Ausschließenden wiederum ihr eigener Ausschluss. Eine Gesellschaft sanktioniert ihre Straftäter mit Ausschluss als dem Mittel allerletzter Wahl. – Aber zusätzlich zu den geläufigen, verneinenden und bejahendenArten von Beziehung entsteht seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert noch eine weitere.
7. Die virtuelle Beziehung wird mithilfe elektronischer Medien und insbesondere im virtuellen Raum des Internet begründet und gepflegt: Menschen finden zahlreiche Zusammenhänge mit Anderen, spinnen sich ein in einen »Telekokon« (Ichiyo Habuchi, »Accelerating Reflexivity«, 2005) und erschließen sich ein Potenzial an Sinn, das riesig, aber flüchtig ist, eine ständige Gratwanderung am Abgrund der Sinnlosigkeit. In einer Zeit der Funktionalität ist bereits die geringe Bindung , die Beziehungen dieser Art bieten, von Interesse; die größtmögliche Freiheit der Beteiligten erschwert allerdings das Entstehen irgendwelcher Verbindlichkeit. Im Schutz der Anonymität ist die Kontaktaufnahme weitaus unproblematischer als in der realen Welt, auch schüchterne Menschen haben ihre Chance,
Weitere Kostenlose Bücher