Die Liebe deines Lebens
eine Zugfahrkarte, ein Ticket für eine Bootsfahrt, die Kinokarte ihres ersten Dates, eine Restaurantquittung, ein Schuhband, ein vollständig gelöstes Kreuzworträtsel aus der
Irish Times
, alles ordentlich und liebevoll aufeinandergepackt. Doch statt eines Erinnerungskästchens gab es hier einen ganzen Erinnerungsraum.
»Meine Güte, sie haben alles aufgehoben«, sagte Amelia und fuhr zärtlich mit den Fingern über die Schuhschachteln. Beim letzten Jahresetikett machte sie halt. »In dem Jahr ist mein Dad gestorben. Bestimmt hat
er
all das hier gesammelt.« Sie schluckte schwer. Beim Gedanken daran, dass ihr Vater diese ganzen Erinnerungen aufbewahrt hatte, lächelte sie, aber gleichzeitig war sie traurig, dass er es vor ihr geheimgehalten hatte. Dann griff sie willkürlich nach einer anderen Schachtel aus der Menge, schaute sich ihren Inhalt an, nahm sich dann den nächsten Karton vor, und immer so weiter. Sie kramte in den Souvenirs, und stieß gelegentlich einen kleinen Freudenschrei aus, besonders dann, wenn sie etwas fand, was auch zu ihrem Leben gehörte. Alte Schulzeugnisse, die Zopfbänder, die sie an ihrem ersten Schultag getragen hatte, ihr erster verlorener Milchzahn, Haare von ihrem ersten Friseurbesuch, ein Brief, den sie mit acht Jahren an ihren Vater geschrieben hatte und in dem sie sich für einen Streit entschuldigte. Kurz überlegte ich, ob wir sie vielleicht allein lassen und ihr Zeit geben sollten, sich ganz in ihrem eigenen Tempo mit den Schachteln zu beschäftigen und die Jahre der Ehe ihrer Eltern nachzuvollziehen, kam aber zu dem Schluss, dass sie jemanden brauchte, mit dem sie diese Erfahrungen teilen konnte. Zum Glück hatte auch Adam genügend Geduld, und so konnten wir Amelia diesen Gefallen tun. Adam schien gerührt, und ich hoffte, dass es für ihn vielleicht therapeutisch wirken könnte, all die Liebe, die sich in diesem Raum befand, zu beobachten.
Amelia hielt ein Foto von ihren Eltern in den österreichischen Alpen hoch. »Das war das Feriendomizil meines Onkels«, erklärte sie lächelnd, während sie das Foto betrachtete und mit dem Finger über die Gesichter strich. »Da waren sie jedes Jahr, bis zu meiner Geburt. Als ich die Fotos gesehen habe, wollte ich auch unbedingt hin und hab sie angebettelt, aber meine Mutter konnte nicht.«
»War sie schon krank, als du klein warst?«, fragte Adam.
»Anfangs nicht. Ihren ersten Schlaganfall hatte sie, als ich zwölf war, aber schon davor hatte sie zu viel Angst. Als ich auf der Welt war, wurde sie total nervös, was Reisen anging. Vermutlich so eine Mutter-Geschichte …«
Sie sah uns an, als sollten wir diese Vermutung bestätigen, aber wir konnten ihr keine Auskunft geben, da wir beide ohne Mutter aufgewachsen waren.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass meine Eltern das ganze Zeug aufgehoben haben.«
»Ich frage mich, warum sie es dir nicht gesagt haben«, meinte Adam, mehr zu sich selbst, während er nachdenklich den Blick über die Regale schweifen ließ.
Damit hatte er genau das angesprochen, was wir alle im Stillen dachten – der Elefant in diesem Raum. Kaum waren die Worte aus seinem Mund, war ihm klar, was er damit heraufbeschwor, und er versuchte es ungeschehen zu machen. »Ich meine, wirklich erstaunlich, dass sie all das aufbewahrt haben.«
Aber es war zu spät, Amelia hatte bereits einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Adam hatte sie daran erinnert, dass dieser Raum ein Geheimnis war, etwas, was ihre Eltern nicht hatten mit ihr teilen wollen. Warum?
»Amelia?«, fragte ich besorgt. »Alles klar mit dir? Was ist los?«
Als ob sie aus einer Trance erwachte, begann sie plötzlich, aktiv zu werden, suchte hektisch die Regale ab, als fahnde sie nach etwas ganz Bestimmtem, und fuhr, als hätte sie keine Sekunde zu verlieren, mit dem Finger über die Daten auf den Schachteln.
»Was suchst du denn?«, fragte ich. »Können wir helfen?«
»Das Jahr, in dem ich geboren bin«, erklärte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Daten der Kartons auf den oberen Regalfächern zu lesen.
»Achtundsiebzig«, sagte ich zu Adam, der gut eins achtzig groß war und alles leicht erreichen konnte.
»Ich hab es!«, verkündete er nach kurzem Suchen, zog einen staubigen Karton heraus und reichte ihn Amelia. Vor lauter Aufregung stieß sie dagegen, und die Kiste flog quer durch den Lagerraum. Der Deckel löste sich, der Inhalt segelte durch die Luft, und alles landete auf dem Boden. Eilig gingen wir auf alle viere und sammelten
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