Die Liebe der anderen
nicht hervorzubringen vermag. Aber um ganz sicher zu sein, muss ich mein Leben noch genauer erforschen.
Ich gehe weiterhin zu Raphaël, und jede Woche verweist er mich erneut auf jenen verborgenen Teil, den ich nicht sehen möchte. Nur er ist in meine schmerzlichsten Fragen eingeweiht. Er ist eine Art Schutzengel, der meine Suche anführt und mir in schwierigen Momenten als Freund zur Seite steht. Eins ist mir klargeworden: Ich will aufdecken, was ich vergessen wollte. Aber ist das vernünftig?
Es gelingt mir noch nicht, in allen Dingen, die mich beschäftigen, ehrlich zu sein, vor allem nicht, was das Geheimnismit Pablo angeht. So nenne ich inzwischen die Dunkelzone, die uns voneinander trennt. Ich bin sicher, dass in irgendeiner verborgenen Ecke unseres Ferienhäuschens ein Heft herumliegt, in dem alles drinsteht. Inzwischen ist mir klar, dass ich mit niemandem über meine Seelennöte gesprochen habe. Geneviève scheint nicht auf dem Laufenden zu sein, denn ich habe ihr angekündigt, sie später einzuweihen. Juliette hat eine Ahnung, weiß aber nichts, und Catherine kam in den vergangenen sechzehn Monaten meines Lebens nicht vor. Ich glaube, damit habe ich meine engsten Freunde durch. Wenn es noch weitere gäbe, hätte ich es in diesen sechs Wochen erfahren. Ich habe Geneviève kurz geantwortet, damit sie sich keine Sorgen mehr macht, bin meinem Schweigen aber treu geblieben. Ich hatte keine Lust, ihr zu sagen, dass ich alles vergessen habe, auch wenn ich mich freue, dass wir den Kontakt aufrechterhalten haben. Ein Teil von mir bleibt stumm. Ich weiß nicht, ob es ein generelles Misstrauen ist, das ich der ganzen Welt entgegenbringe, oder eine plötzliche Eingebung, die nur diese Beziehung betrifft, doch ich halte mich daran. Raphaël hat mir geraten, aufmerksam auf alles zu hören, was meine innere Stimme mir sagt. Mit den Erklärungen kann ich mir Zeit nehmen. Mittlerweile bin ich ruhiger geworden. Als ich meine Amnesie entdeckte, hatte ich das Gefühl, ich säße in einem Zug ohne Bremsen, der erst anhalten würde, wenn der grausige Hintergrund aufgeklärt wäre. Nach und nach habe ich meine Ängste abgelegt. Ich habe alle Zeit der Welt.
Aus Anteilnahme an meinem Zustand und an meiner Isolation ruft mein früherer Klavierlehrer fast wöchentlich an. Er hat sich die Mühe gemacht, mir die Stücke aufzunehmen, die ich gespielt habe, bevor ich alles wieder vergaß. Nun begleiten mich Sonaten von Mozart,
Études
und
Nocturnes
von Chopin, Jazzballaden und der berühmte Tango von Astor Piazzola musikalisch durch den Tag.
Und jedes Mal redet er mit seiner sanften Stimme auf mich ein: »Marie, verstehen Sie doch, ich möchte kein Geld. Ich würde mich so freuen, wenn die Musik etwas in Ihnen auslösen würde, wenn sie Ihnen helfen könnte.«
Er möchte mich wieder unterrichten. Wieder bei Null anfangen! Er hat sogar vorgeschlagen, ich könnte in das Aufnahmestudio kommen, wo er für seine Konzerte übt, damit es nicht so auffällt, und ich könne doch üben, wenn niemand zu Hause sei. So viel Liebenswürdigkeit bringt mich ganz durcheinander.
»Fragen Pablo und die Kinder Sie nicht, warum Sie nicht mehr spielen?«
»Doch, natürlich. Aber es war nicht schwer, mir etwas für Pablo einfallen zu lassen, ich habe ihm von einer musikalischen Krise erzählt, die ich durchmache, von dem Bedürfnis, eine Pause einzulegen, da seien Ihre kurzfristigen Konzerttermine mir gerade recht gekommen. Bei den Kindern war es komplizierter, sie wünschen sich ständig, dass ich ihnen die Jazzversion von
Au clair de la lune
vorspiele oder die Geschichte von der kleinen Maus, vor allem Youri, der so gern singt und dabei begleitet werden möchte. Wie soll ich es bloß anstellen, sie nicht allzu sehr zu enttäuschen?«
Für Enrique ist das nur ein weiteres Argument für seinen Plan. »Lassen Sie uns mit diesen leichten Stücken anfangen. Sie werden es schaffen, Sie können keine schlechte Schülerin sein, wo Sie es doch schon einmal mit solcher Leichtigkeit gelernt haben.«
Ich weiß nicht, ob nicht gerade das mich ängstigt, jedenfalls bin ich noch nicht überzeugt und suche weitere Ausflüchte: Es könne ganz schön langweilig für ihn sein, einem Menschen noch einmal dasselbe beizubringen. Doch sein Enthusiasmus fegt all meine Einwände hinweg.
»Das wird eine interessante Erfahrung, wer weiß, ob nicht Ihr Hörgedächtnis …«
Musik als Therapie gegen das Vergessen, warum nicht?Ich gebe klein bei. Ich erkläre mich
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