Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
und presste ihn gegen die Brust. So schnell gab sie ihn nicht wieder her. »Wie kommt Ihr an dieses Buch?«
Statt zu antworten, wischte sich Polyphemus umständlich die Stirn, richtete den Kragen, verschränkte die Hände wieder auf dem Rücken und sah die von kleineren Türmen unterbrochene Backsteinmauer entlang. Je länger Dora auf seine Erklärung wartete, je deutlicher wurde ihr, was es bedeutete, dass er ihr den Band überreicht hatte: Er hatte bereits darin gelesen, wusste also über die geheimsten Gedanken ihres Gemahls bestens Bescheid, ganz zu schweigen von dem, was darin über sie und ihr Verhalten in Urbans letzten Tagen geschrieben stand. Nicht weiterdenken, beschwor sie sich und drückte das Buch noch fester gegen die Brust.
»Seid beruhigt, meine Liebe«, erlöste Polyphemus sie aus dem bangen Grübeln. »Natürlich konnte ich mir einen Blick in die Aufzeichnungen Eures Gemahls nicht versagen. Sobald mir allerdings klarwurde, wie persönlich er die Geschehnisse darin notiert hatte, habe ich mir das Weiterlesen verwehrt. Auch wenn es mir sehr, sehr schwergefallen ist«, setzte er leise nach. »Allerdings haben mir schon die wenigen Zeilen, die ich mir zu lesen gestattet habe, bewiesen, um welch vortreffliches Werk es sich handelt«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Überlegt Euch, ob Ihr nicht zumindest den Teil der Aufzeichnungen, der mehr das öffentliche Geschehen in Preußen und weniger das persönliche Leben und Schicksal Eures Gemahls betrifft, zum Druck freigeben wollt. Ich bin mir sicher, der Herzog würde Euren Entschluss freudig begrüßen. Immerhin handelt es sich um ein einmaliges Zeugnis der ersten Jahrzehnte des preußischen Herzogtums.«
»Wie und wann seid Ihr an das Buch gekommen?«, überging sie seine Vorschläge, malte sich dabei aus, seit bald zwei Wochen Tag für Tag mit ihm unter der stickigen, engen Wagenplane gesessen und nicht einmal im Entferntesten geahnt zu haben, wie nah ihr dabei Urbans verzweifelt gesuchte Chronik gewesen war. »Warum gebt Ihr es mir überhaupt erst jetzt?«
»Mein Verhalten ist unverzeihlich.« Zerknirscht schlug er die Hand vor die Brust, senkte den Blick und sortierte mit der abgestoßenen Spitze seiner rissigen Lederstiefel Steine auf dem Straßenpflaster. »Was gäbe ich darum, Euch eine gute Entschuldigung dafür geben zu können. Doch dazu müsste ich lügen, und das will ich nicht.«
»Also?«, gab sie sich unnachgiebig.
Er räusperte sich, schaute sie eine Weile stumm an, bevor er schließlich erklärte: »Als ich das Buch in der Nacht vor unserer Abreise gefunden habe, hätte ich es Euch sofort übergeben müssen. Es war ein Zufallsfund, das müsst Ihr mir glauben. Schlaflos wie so oft bin ich durch die Schlossbibliothek gestreift und habe nach einem Buch gesucht, das ich mit auf die Reise nehmen konnte. Dabei fielen mir die Aufzeichnungen Eures Gemahls in die Hände. Sie steckten mitten in einer Reihe von Reiseberichten aus Russland, die in ähnliche Einbände eingeschlagen waren. Er muss das Buch eigenhändig dort eingestellt haben. Mich jedenfalls hat er nicht darum gebeten. Der Ort, an dem es sich befand, machte den Eindruck, als wollte er es dort zwar verbergen, es aber zugleich jederzeit selbst wiederfinden. Ich vermute, sein unverhoffter Tod hat ihn davon abgehalten, es wieder an sich zu nehmen.«
Er wippte auf die Zehenspitzen, verharrte so, tippte den tintenbefleckten Zeigefinger gegen die Lippen und grunzte selbstvergessen. Dora betrachtete ihn nachdenklich. Polyphemus war klug. Einerseits fühlte sie sich von ihm hintergangen, weil er ihr Urbans Buch so lange vorenthalten und sogar schon begonnen hatte darin zu lesen. Andererseits schien er es sich genau überlegt zu haben, wann er es ihr gab. Seine Andeutungen bewiesen, wie er den Inhalt einschätzte – als ein wichtiges Zeugnis über die Anfangszeiten des preußischen Herzogtums. Also ahnte er, was sie in Krakau wollte und dass ihr das Buch dabei helfen konnte.
»Etwas gibt mir arg zu denken«, setzte er nach einer Weile wieder an.
»Was?«
»Für die Niederschrift seiner persönlichen Erlebnisse wird Euer Gemahl wohl kaum diese Umstände betrieben haben. Die hätte er entweder in der Rentkammer in eine Kiste gesperrt oder zu Hause aufbewahrt. Das aber schienen ihm für diese Chronik nicht die geeigneten Plätze. Also muss er befürchtet haben, man würde dort nach genau solchen Aufzeichnungen suchen. Deshalb hat er den Band in die Bibliothek gebracht. Wie gut
Weitere Kostenlose Bücher