Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
beste Beweis, wie wichtig es ist, Glaubensfragen allein dem Gewissen zu überlassen. Mit Gewalt lässt sich nicht nur in dieser Angelegenheit wenig gewinnen, am allerwenigsten die Herzen der aufrecht Gläubigen.«
»Wollen wir hoffen, Ihr seid nicht der Einzige, der so denkt.«
»Solange Ihr solche Fragen stellt, liebe Stöckelin, schaue ich voller Zuversicht in die Zukunft.« Verschmitzt zwinkerte er ihr zu, wies mit der Hand die Straße hinunter. »Lasst uns noch ein Stück in diese Richtung gehen, immer der aufgehenden Sonne entgegen. Das erste Tageslicht schenkt Gottvertrauen, dass die Finsternis jeden Tag aufs Neue überwunden wird.«
Eine gute Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher, jeder in seine Gedanken versunken. Kaum schenkte Dora den stolzen Kaufmannshäusern rechts und links des Weges Beachtung, dabei zeigte sich in ihrer Pracht die einstige Bedeutung der Stadt als westliches Einfallstor für den Handel zwischen deutschen und polnischen Ländern. Längst hatte Thorn zwar seine Vorrangstellung an Danzig abgetreten, ebenso hatten die zahlreichen Sonderrechte aus Ordenszeiten unter der Herrschaft des polnischen Königs an Bedeutung verloren, dennoch aber garantierte die besondere Lage weiterhin rege sprudelnde Einkünfte.
Die breite, gepflasterte Straße stieg zunächst stetig an, um dann in einem sanften Bogen südöstlich zur alten Mauer hin wieder leicht abzufallen. Das frühere Stadttor zwischen den beiden Zwillingsstädten Thorns war nur mehr eine Erinnerung an vergangene Zeiten und gewährte einen offenen Blick auf die Neustadt. Hinter den Zinnen ragten die Reste der ehemaligen Ordensburg auf, die sich bis zum Weichselufer erstreckten. Am Horizont riss ein Silberstreif das Graublau der Nachtwolken entzwei. Die Wolkenfetzen rings um die aufgehende Sonne tauchten den einsam aus den Ruinen aufragenden Danzker sowie die spärlichen Mauerreste der Festung in ein diffuses Licht. Auf dem Turm zeigte sich ein Trompeter, der kräftig in sein Instrument stieß. Laut schallte der Trompetenstoß über die erwachende Stadt.
»Das war der Weckruf der Neustadt an die Altstadt«, erklärte Polyphemus. »Auf der ehemaligen Burgfreiheit um die Jakobikirche haben sich einst vor allem Handwerker angesiedelt. Bis auf den heutigen Tag hat sich wenig daran geändert. Da die tüchtigen Handwerker ihr Tagwerk gern mit dem ersten Hahnenschrei beginnen, schicken sie diesen Trompetengruß jeden Morgen zu den Kaufleuten in die Altstadt im Westen.«
»Woher wisst Ihr immer gleich so gut über die Gebräuche in den verschiedenen Städten Bescheid?«
»Zum einen bin ich sehr viel herumgekommen, zum anderen verreise ich Tag für Tag beim Lesen in Gedanken. Ihr macht Euch keine Vorstellung, welch packende Reiseschilderungen und Chroniken inzwischen gedruckt werden. Kein Mensch müsste mehr ein Pferd besteigen, um fremde Gefilde, andere Kulturen und neue Bräuche kennenzulernen. Eigentlich genügt dafür eine ausreichend große, wohlsortierte Bibliothek.«
»Ihr als Bibliothekar aber solltet weiterhin reisen. Woher wollt Ihr sonst wissen, welche Bücher für Eure Bibliothek anzuschaffen wären?«
»Dazu genügen eigentlich die stattlichen Kataloge der Messen in Leipzig und Frankfurt. Die Verzeichnisse sind mehr als ausführlich und geben einen hervorragenden Überblick über das Jahreswerk der Drucker. Ohnehin wird längst zu viel in bleierne Lettern gegossen und alsdann unters Volk gebracht. Wirklich wichtige Werke aber geraten darüber in Vergessenheit oder finden gar nicht erst den Weg zum Drucker. So wie dieses Büchlein hier.«
Nur wenige Häuserecken von der früheren Mauer zwischen Alt- und Neustadt blieb er stehen, kramte umständlich in den Tiefen seiner Rocktaschen herum, um endlich ein schwarzes Päckchen herauszuziehen und es Dora auffordernd entgegenzustrecken. Es war schwer zu erkennen, um was genau es sich handelte. Der Erker des Hauses, vor dem sie standen, warf einen trüben Schatten auf die enge Straße. Vorsichtig nahm sie das dunkle Etwas entgegen und betastete es von allen Seiten. Auch ohne Genaueres zu sehen, ahnte sie, was es sein mochte. Auf weichen Knien lief sie ins Helle und besah es sich dort noch einmal genauer.
»Urbans Chronik!« Am liebsten wäre sie dem Bibliothekar um den Hals gefallen. Aufgeregt blätterte sie die Seiten durch, überflog einige Zeilen, betrachtete gerührt die akkuraten Schriftzüge, strich gedankenverloren über das rauhe Papier. Sie schlug den Oktavband wieder zu
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