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Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)

Titel: Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Rehn
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Götz Steinhaus war ebenfalls ein sehr zuvorkommender Zeitgenosse, der stets um ihr Wohlbefinden besorgt war. Was ihm jedoch ermangelte, war der sprühende Geist des Bibliothekars, der aus jeder noch so abseitigen Beobachtung ein wahres Erlebnis machte. Die Gegenwart von Pfarrer Tönnies wie auch der Base missfiel ihr allerdings, zumal Mathilda sie stets an ihr in Königsberg zurückgelassenes Kind erinnerte. Umso mehr hatte sie es bislang genossen, sich von Polyphemus auf andere Gedanken bringen zu lassen.
    Das erste Morgenlicht suchte sich seinen Weg durch die gemächlich weichende Dämmerung. Schwarz verwandelte sich in Grau, lichtes Grau in ein erstes zartes Weiß. Langsam schälten sich die Umrisse eines mächtigen Lindenbaums aus der Dunkelheit heraus. Um seinen Stamm schlang sich eine Bank, die an sonnigen Tagen zum Verweilen einlud. In einem Winkel des weitläufigen Platzes um das vierstöckige Rathaus krähte ein Hahn, begleitet vom Bellen eines Hundes und dem trägen Miauen einer Katze. An den Häusern öffneten sich die Läden. Mägde mit schlaftrunkenen Gesichtern schauten müde heraus, winkten einander stumme Morgengrüße zu. Matt schlurften die Knechte heraus, um sich zu ihrem Tagwerk aufzumachen. Neben dem Kaufhaus öffnete die Waage, auch die ersten Krämer und Bäcker rückten an, um die Buden für den Tageshandel zu bereiten. Voller Sehnsucht nach der Geborgenheit des eintönigen Alltags beobachtete Dora das Geschehen. Noch besaß das langsame Erwachen der Stadt etwas Tröstliches. Öffneten erst die Stadttore, wich die Ruhe auf einen Schlag, und mit dem Einfall des geschäftigen Treibens stand auch der Aufbruch aus Thorn und damit der Abschied von Polyphemus an. Dora rang sich zu einem scheuen Lächeln durch.
    »Lasst uns die Zeit nutzen, um mehr von der Stadt zu sehen«, schlug sie vor. »Mir ist, als käme es nicht von ungefähr, dass wir beide so früh dem Schlaf entsagt haben.«
    »Insgeheim habe ich längst damit gerechnet, noch einige Momente mit Euch allein zu verbringen. Wer, wenn nicht Ihr, sollte mir zur Seite stehen, um auch die Schätze Thorns ausgiebig zu erkunden? Ich bin gespannt, welche Entdeckungen uns bevorstehen.«
    Der beleibte Bibliothekar lächelte wieder dieses eigenartige, verschrobene Lächeln. Zugleich verschränkte er die kurzen Arme hinter dem Rücken und gewährte ihr den Vortritt. Ohne Zögern wandte sie sich ostwärts, wo trotz der Vereinigung der Alt- und Neustadt vor gut einhundert Jahren nach wie vor eine Mauer die frühere Trennung Thorns in zwei Städte bewies.
    »Ihr flieht wohl den Platz um die Johanniskirche. Habt Ihr Angst, der Stelle zu nahe zu kommen, an der vor zwei Jahrzehnten ein päpstlicher Legat Luthers Schriften verbrannte? Ich kann Euch beruhigen. Damals schon bewiesen die empörten Bürger Mut und jagten den Papisten mit Steinwürfen aus der Stadt. Auch wenn Thorn als Stadt innerhalb Preußens Königlichen Anteils dem polnischen König untersteht, so haben sie doch voller Tatkraft ihren lutherischen Reformeifer durchgesetzt.«
    »Das freut mich zu hören. Ich aber wollte lediglich einen Blick auf die Reste der Ordensburg im Osten werfen«, erwiderte Dora. Polyphemus’ Worte jagten ihr einen Schauer den Rücken hinunter. Bislang hatte sie eher verdrängt, wie dünn der Grat war, auf dem sie sich als preußische Lutheraner innerhalb des katholischen Polens bewegten. Noch hatte der Glaube kaum eine Rolle gespielt, da in den bisherigen Stationen allesamt die reformatorische Gesinnung vorherrschte. »Wie kommt es, dass der polnische König und seine Heimatstadt Krakau sich trotz der Glaubensunterschiede so rege mit Nürnberg austauschen?«, erkundigte sie sich nach einigen Schritten.
    »Eine gute Frage«, erwiderte der Bibliothekar und blieb stehen. Angestrengt schöpfte er nach Luft. Das Dämmerlicht war noch zu schwach, um die Schatten seiner breiten Hutkrempe über dem Gesicht zu durchbrechen. Auch er senkte das Antlitz, weshalb Dora ihn um gut eine Handbreit überragte. Unruhig scharrte sein Fuß über das Straßenpflaster, bevor er sich zu einer Antwort durchrang. »Die Jagiellonen haben sich von jeher Andersgläubigen offen gezeigt. Gerade den in ihrer deutschen Heimat verfolgten Juden haben sie in den letzten beiden Jahrhunderten immer wieder Zuflucht geboten. So halten sie es auch mit den Lutheranern. Wahrscheinlich sind die guten Beziehungen des katholischen Krakauer Hofs zum lutherischen Nürnberg sowie zum reformatorischen Preußen der

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