Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
sie, um sich an unserem Unglück zu weiden«, ergänzte die Erste und rüttelte noch einmal an Doras Arm. »Fast erstickt wären wir im Rauch.«
»Oder bei lebendigem Leib verbrannt!«
»Dabei wüsste ich eine Hexe, der dieser Tod zu wünschen ist.«
Der Kreis um Dora verengte sich. Drohend blickten ihr die Frauen ins Gesicht. Hinter der Verlotterten bückte sich ein Mann und nahm einen Stein vom Boden auf. Ein Zweiter hielt plötzlich einen Knüppel in der Hand. Die bucklige Alte machte einen Schritt zur Seite, um ihn vorbeizulassen. Doras Herz raste. Ängstlich suchte sie nach einem Fluchtweg. Dazu aber standen die Leute viel zu dicht um sie herum.
»Nehmt Eure dreckigen Finger von der Stöckelin! Sie ist gebürtige Kneiphoferin wie Ihr. Ihrem Gemahl habt Ihr es zu verdanken, dass sich die Altstädter Tore letzte Nacht für Euch geöffnet haben.«
Unverhofft tauchte ein Mann mittleren Alters auf und drängte die Frauen und Männer von Dora fort. Seinen Worten folgte ein anerkennendes Raunen, das durch die Reihen der Wartenden wallte.
»Stimmt, das ist die Tochter von Wenzel Selege.«
»Sie hat die Augen ihres Urgroßvaters. Meine Großmutter hat mir von dem ungleichen Blick erzählt.«
»Wie gut, dass Ihr Gemahl so umsichtig gehandelt hat.«
Schlagartig änderte sich die Stimmung. Auf einmal musterten Dora neugierige statt bedrohliche Blicke. Das Geschiebe um sie herum nahm zwar wieder zu, weil jeder sehen wollte, wer sie tatsächlich war, aber da die Hand mit dem Knüppel ebenso verschwunden war wie der Mann mit dem Stein, atmete Dora dennoch auf. Ein jüngerer Mann klopfte ihr von hinten anerkennend auf die Schulter. Als der Erste sich halb zu einer weiteren Frau nahe bei Dora umdrehte, um sie wegzuschieben, erkannte sie in ihrem neuen Beschützer den Kaufmann Tschakert, der das Gebäude direkt neben dem Badehaus besaß und unlängst den Vater mit dem Ausbau seines Besitzes beauftragt hatte.
»Es war nicht sonderlich glücklich von Euch, heute in Eurem Feiertagsaufzug in den Kneiphof zu kommen«, wisperte er ihr zu, als er sie entschlossen aus der Menge wegführte. Dora wollte das erklären, er aber achtete nicht darauf, sondern eilte zielstrebig weiter. Erst auf der Treppe des Beischlags vor seinem Haus blieb er stehen. Er mochte in etwa die gleiche Größe und dasselbe Alter wie ihr Vater haben. Das schüttere graue Haar hatte er mit einem schwarzen Barett aus Fell bedeckt. Seine erfolgreiche Stellung innerhalb der Bürgerschaft kehrte er mittels eines eleganten, mit Goldknöpfen und golddurchwirkten Borten bestückten Faltrocks sowie mit dem kostbaren Pelzkragen am Mantel und den auffälligen Schnallen an seinen Kuhmaulschuhen heraus. Angesichts dessen hielt Dora seinen Hinweis auf ihre Festtagsschaube für umso unverständlicher. Auf seinem bartlosen Antlitz aber lag eine entwaffnende Güte, die ihr gleich Vertrauen einflößte und die Zurechtweisung rasch vergessen ließ. Freundlich blickte er ihr aus seinen bernsteinfarbenen Augen entgegen. Schon wollte sie ihn nach ihren Brüdern fragen, da lächelte er sie fürsorglich an und schüttelte sacht den Kopf. »Macht Euch keine Sorgen, bei mir ist er in Sicherheit. Zwar hat ihn ein herabstürzender Balken verletzt, doch Wundarzt Berges war vorhin da und hat bereits die Brandwunden versorgt sowie den gebrochenen Arm geschient. Die nächsten vier, fünf Wochen wird ihn das zwar viel Geduld kosten, dennoch sollte man Gott danken, dass er so glimpflich davongekommen ist. Wenn Ihr wollt, begleite ich Euch beide in Euer Haus in der Altstadt. Dort könnt Ihr ihn besser pflegen. Euer Elternhaus in der Domgasse ist derzeit wohl kaum bewohnbar, wie ich gehört habe. Längst wollte ich zu Eurem Vater, um ihm meine Hilfe anzubieten, aber …«
»Habt vielen Dank«, unterbrach Dora seinen Redefluss, »und bringt mich bitte gleich hinein. Ihr könnt Euch denken, wie eilig ich es habe, ihn zu sehen.«
»Verzeiht, natürlich. Ihr wollt Euch mit eigenen Augen von seiner Rettung überzeugen, um Eurem Vater sogleich Bericht zu erstatten.«
In der Diele empfing sie wohltuende Stille. Sobald sich die Tür hinter Tschakert geschlossen hatte, schien der Aufruhr in der Langgasse ebenso vergessen wie der furchtbare Brand im östlichen Teil des Kneiphofs. Es roch nicht einmal nach Feuer und Verwüstung, wie Dora erleichtert feststellte. Zielstrebig geleitete der Kaufmann sie zur Treppe. Sie folgte ihm nach oben. Die Tür zur Küche im ersten Stock stand offen. Zwei junge
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