Die Liebe der Baumeisterin: Roman (German Edition)
angenommen. Selbst die verrückte Magd Renata lebte nun im Stöckelschen Haushalt, wenn sie derzeit auch kaum für die einfachsten Aufgaben zu gebrauchen war. Das Feuer musste den letzten Rest ihres Spatzenhirns versengt haben. Wie von Sinnen rannte sie seither den ganzen Tag umher, füllte sämtliche Eimer und Schüsseln mit Wasser und kreischte schon beim Anblick eines brennenden Talglichts los, als begänne sie bei lebendigem Leib in der Hölle zu schmoren. Des Nachts weigerte sie sich, an einem anderen Ort als neben der Eingangstür auf dem steinernen Dielenboden zu schlafen. Inständig wünschte sich Mathilda, Urban wäre weniger mitfühlend. Das würde es leichter machen, Renata ins Tollhaus zu stecken. Im Großen Hospital im Löbenichter Münchenhof würde man sich bestens um sie kümmern. Dora aber betrachtete Renata als Mitglied der Familie und weigerte sich, sie wegzuschicken. Dem Willen seiner Frau wollte der Vetter nicht zuwiderhandeln.
Wie gewohnt am rechten Kopfende thronend, gab er das Zeichen zum Tischgebet. Gehorsam falteten alle die Hände, neigten die Köpfe und lauschten seinen frommen Worten. »Komm, Herr Jesus, und sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.« Am Ende stimmten alle in sein »Amen« ein. Urban hob den Blick. »Lasst es Euch schmecken.«
Mathilda griff nach dem Löffel und begann mit der Suppe. Die anderen folgten schweigend ihrem Beispiel. Bald war nur das Kratzen der Löffel in den tönernen Schalen zu hören. Rechts von Mathilda erklang ein leises Aufstoßen. Sie runzelte die Stirn. »Lienhart«, mahnte sie und schaute streng zu dem zehnjährigen Knaben, der zwischen ihr und Urban saß.
»Entschuldigung«, murmelte er zerknirscht. Seine Wangen glühten. Sie tätschelte ihm tröstend den Hinterkopf und versuchte sich in einem aufmunternden Lächeln. »Schon gut, mein Junge, du lernst das noch. In zehn Tagen kann man nicht die Versäumnisse der letzten Jahre aufholen.«
Mit Genugtuung gewahrte sie, wie Dora, die über Eck auf ihrem früheren Platz zu Urbans Rechter saß, die Augenbraue hochzog. Um ihren kleinen Mund zeichneten sich Unmutsfalten ab. Urban dagegen nickte ihr dankbar zu. Des Öfteren hatte er in den letzten Tagen sein Gefallen daran bekundet, wie sie sich Lienharts vernachlässigter Erziehung annahm. Ein zarter Hauch rührte ihr Herz. Wäre es nicht schön, Urban und sie hätten einen Sohn gehabt wie ihn? Vom Alter her würde das passen. Seit zwölf Jahren lebte sie im Haus des Vetters. Doch leider hatte das Schicksal anders über sie beide entschieden. Sie tupfte sich die Stirn. Winzige Schweißperlen standen darauf. Der Dampf der Speisen wie auch die Märzsonne und die vielen Menschen an der Tafel heizten den langgestreckten Raum mit der niedrigen Kassettendecke kräftig auf.
»Wie weit seid Ihr mit dem Entwurf für unser neues Heim, mein Augenstern?«, wandte sich Urban an seine Gemahlin. »Jetzt, wo Ihr derart fachkundige Unterstützung vonseiten Eures Bruders und seines Freundes Singeknecht bei uns im Haus habt, sollte er Euch rascher von der Hand gehen.«
»Ja, schon«, setzte Dora zögernd an, bevor sie sich für ein heftiges Husten unterbrechen musste. Fast verschluckte sie sich an der Suppe. Unbeholfen versuchte Veit Singeknecht ihr auf den Rücken zu klopfen. Da er rechts von ihr Platz genommen hatte und seine gebrochene linke Hand nach wie vor geschient war, versuchte er sie mit der gesunden Rechten zu erreichen. Dora war das sichtlich unangenehm. Mit einer heftigen Handbewegung wehrte sie seine Hilfe ab. Erschrocken zog er die Hand zurück und stieß dabei gegen die vor ihm stehende Kanne Bier. Geistesgegenwärtig fing Jörg, der neben ihm saß, sie vor dem Umfallen auf. Mathilda beobachtete, wie Jörgs Gattin Gret ihren Vetter seltsam anstarrte, dann zu Dora und schließlich wieder auf Veit Singeknecht schaute und dabei ungläubig den Kopf schüttelte. Erstaunt zog Mathilda die Augenbraue hoch.
»Ich glaube, mein Lieber«, mischte sich Wenzel Selege vom anderen Ende des Tisches in das Gespräch, »Ihr solltet meine Tochter besser an ihre Aufgaben als Hausfrau erinnern. Sie ist keine ausgebildete Baumeisterin. Auch wenn sie das Zeichnen einigermaßen gut beherrscht, so stößt sie spätestens bei den notwendigen Berechnungen an die Grenzen ihres Könnens. Das kann man einer Frau wie ihr schlecht vorwerfen. Dazu bedürfte sie in jedem Fall der Hilfe von erfahrenen Baumeistern wie meinem Sohn und seinem Freund. Allerdings wäre es wohl
Weitere Kostenlose Bücher