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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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ein Tasten zunächst, dann ein Streicheln, es war angenehm, es war warm, es war eine Hand!
    Die Hand der Fremden.
    Sie hatte sich durch das Trenngitter geschlängelt und streichelte ihn, als sei es die größte Selbstverständlichkeit der Welt. Heiliger Vater, vergib dieser Frau!
    Ein Schauer lief Pater Alfredo über den Rücken, aber nicht vor Entrüstung, sondern vor Wonne. Er wollte sich aufrichten, dem Spuk ein Ende bereiten, doch er war nicht in der Lage dazu. »Und führe uns nicht in Versuchung …«, murmelte er hilflos, während die Hand der Fremden ihn unablässig weiterstreichelte, hin und her wanderte, sein Kinn umschmeichelte, seine Wangen liebkoste. Ein Finger löste sich aus der Hand und legte sich auf seine Lippen. »Pst«, schien der Finger zu flüstern. »Pst, Pater Alfredo, ich glaube, du bist ein Mann wie jeder andere auch, du führst den Namen Gottes nur im Mund, während du die ganze Zeit daran denkst, dass ein Finger zu einer Hand gehört, zu einem Arm, zu einer runden Schulter, zu vollen Brüsten und einem feuchten, lockenden Schoß … sag mir, dass es so ist.«
    »Weiche von mir, Satan«, krächzte Pater Alfredo. »Weiche von mir …« Er kam sich vor wie das Kaninchen, das auf die Schlange starrt, die Schlange der Versuchung, die Schlange, die Adam und Eva dazu überredete, entgegen dem Verbot Gottes vom Baum der Erkenntnis zu essen. »Weiche von mir, bitte …«
    Sag mir, was du willst, kleiner Pater, schien der Finger zu flüstern, du willst nicht mehr beten, du willst nicht mehr die Beichte abnehmen, du willst etwas ganz anderes, sag es mir, sag es mir.
    In seine unsägliche Verwirrung hinein hörte Pater Alfredo plötzlich Rufe, sie waren laut, sehr laut, und sie waren wie eine Erlösung. Sie sprengten den Ring seiner Erstarrung und schwollen an, wurden zu Schreien, zu hilflosen, jammervollen Schreien, die sogar das Donnern übertönten.
    Da musste etwas Furchtbares passiert sein!
    Pater Alfredo sprang auf, öffnete die Tür des Beichtstuhls und eilte hinaus ins Kirchenschiff.
    »Was geht hier vor?«, rief er. Doch er bekam keine Antwort. Stattdessen hasteten ihm Menschen entgegen, händeringend, gestikulierend, Verzweiflung, Angst und Entsetzen im Gesicht. Sie riefen durcheinander: »Mein Haus brennt!« – »Feuer überall!« – »Englische Galeonen!« – »Wir werden beschossen!« – »Helft uns, Pater, helft uns!«
    Pater Alfredo brauchte mehrere Augenblicke, um die Situation zu begreifen. Sollte das, was er gehört hatte, wirklich kein Gotteszeichen, sondern Kanonendonner gewesen sein? Wie konnte er sich nur so geirrt haben? Doch langes Überlegen half nichts. Jetzt musste gehandelt werden. Er blieb vor den Menschen stehen und tat etwas, von dem er wusste, dass es die Leute stets beruhigte. Er schlug das Kreuz. »Kniet nieder und hört, was ich euch zu sagen habe: Gott ist groß, Sein Wille geschehe, in Seiner Hand sind wir geborgen.«
    Er beobachtete, wie die Gläubigen, egal, wo sie standen, niedersanken, die Hände falteten und ruhiger wurden. Ja, Gott war groß! Er spürte, wie ihn ein erhebendes Gefühl durchströmte. Niemals wieder würden seine Worte so wichtig sein, niemals wieder würde die Gemeinde ihn so sehr brauchen.
    Er breitete die Arme aus und wollte fortfahren, wollte von Gottes Ratschluss sprechen, von den Prüfungen, die er den Menschen auferlegte, von Hiob und seinen Schicksalsschlägen, doch zu alledem kam er nicht mehr: Jählings raste eine gewaltige Druckwelle durch das Kirchenschiff, gepaart mit einem apokalyptischen Donnerschlag. Die Druckwelle hatte ein nie gekanntes Ausmaß, sie durchschlug nicht nur die Trommelfelle der Betenden, sondern auch die bunten bleigefassten Glasfenster der Kathedrale. Lange, nadelspitze Splitter schossen wie Pfeile durch das Kirchenschiff. Einer von ihnen traf Pater Alfredo von hinten in den Hals. Die Wucht des Aufpralls war so stark, dass der Splitter am Kehlkopf wieder heraustrat.
    Pater Alfredo taumelte und fiel vornüber auf den Boden, mit seinen ausgebreiteten Armen an den gekreuzigten Heiland erinnernd. Blutend und zuckend lag er vor seinen knienden Schafen. Die Sinne schwanden ihm, mit letzter Kraft formte er die Worte, die noch gesagt werden mussten:
    »Fürchtet euch nicht«, röchelte er.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    »Das ging schneller, als ich dachte«, sagte Taggart zufrieden. »Dilling hat die Aufgabe gemeistert. Hat aus dem verdammten Depot einen speienden Vulkan gemacht. Die Dons von der

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