Die Liebe des Wanderchirurgen
überwältigende Gefühle erlebt hatte.
Sie war eine Frau von wildem, ungezügeltem Feuer.
Vorsichtig löste er sich aus ihrem Griff und stand auf. Er wollte einen klaren Kopf bekommen, wollte an Deck, um frische Luft zu atmen und den neuesten Stand der Dinge zu erfahren.
Nach einer kurzen Wäsche und einer Rasur mit kaltem Wasser stieg er in seine Kleider und ging hinaus. Draußen wehte ein unruhiger Südwest, der die
Camborne
tiefer in die Wellentäler eintauchen ließ als am Vortag. Das Schiff lief nahezu Ostkurs, die Haupt- und Bramsegel waren gesetzt, dazu das Blindesegel am Bugspriet. Die Geschwindigkeit mochte vier oder fünf Knoten betragen. Vor der
Camborne
lief Howards Geschwader in guter Ordnung, Vitus erkannte die
Ark Royal,
die
Mary Rose
und andere. Und noch weiter entfernt – bei der guten Sicht klar auszumachen – sah er den majestätischen Halbmond der Armada nach Osten streben, tiefer und tiefer in den Kanal hinein.
Bei den Steuerbord-Sechspfündern traf er auf Stonewell, dessen Anblick ihn daran erinnerte, dass er sich noch nicht um die beiden aufgefischten spanischen Matrosen gekümmert hatte. »Was machen unsere Teerjacken von der
San Salvador?
«, fragte er.
»Ich habe heute Morgen bereits nach ihnen gesehen, Sir«, antwortete Stonewell. »Sie sind ganz munter. Es sind junge Burschen um die zwanzig, deren Körper sich schnell erholen. Sie brauchen in erster Linie Wärme und Schlaf.«
»Ich möchte mir selbst ein Bild machen.«
»Gewiss, Sir.« Stonewell ging voran und wies Vitus den Weg nach unten. »Mein Spanisch ist nicht das Beste, Sir, deshalb konnte ich mich den beiden nicht gut verständlich machen. Doch ihr Allgemeinzustand scheint recht gut zu sein.«
»Wir werden sehen«, sagte Vitus.
Im Behandlungsraum nahm er Platz und ließ sich die Männer vorführen.
»Buenos dias, yo soy
Vitus von Collincourt«,
sagte er zur Begrüßung. »Ich bin der leitende Arzt an Bord. Ich will euch untersuchen. Kommt näher.«
Gehorsam traten beide heran, und Vitus fragte den Ersten:
»Cómo te llamas?«
»Manoel.«
»Gut, Manoel, mach die Zähne weit auseinander.« Er blickte im Schein einer hellen Laterne in die Mundhöhle und stellte Anzeichen des Scharbocks fest. Das Zahnfleisch war geschwollen und an einigen Stellen schwammig. Die Schneidezähne saßen locker.
Vitus merkte sich das und fuhr mit seiner Untersuchung fort. Er besah sich Kopf und Körperglieder genau, befühlte die Muskulatur, beugte die Gelenke, prüfte die Haut, kniff sie an mehreren Stellen zusammen und stellte fest, dass sie sich nach dem Zusammenpressen nicht genügend schnell glättete. »Der Mann trinkt zu wenig«, sagte er zu Stonewell. »Seine Tagesration an Wasser muss erhöht werden.«
»Jawohl, Sir, ich werde es veranlassen.«
»Sorgt bitte auch dafür, dass der Mann gute Kost bekommt. Der Scharbock nagt schon an ihm.«
»Es soll geschehen, Sir.«
Vitus fuhr mit seiner Begutachtung fort. Einige Kratzer und leichte Wunden, die Manoel bei der gestrigen Rettungsaktion davongetragen hatte, waren von Stonewell vorbildlich versorgt worden. Dasselbe schien für eine Brandwunde am Oberarm zu gelten. »Welche Arznei habt Ihr für die Behandlung der Verbrennung gewählt, Stonewell?«, fragte er.
»Nun, Sir, am liebsten hätte ich Hühnerfett genommen, aber da wir an Bord keins haben, musste es Johannisöl tun.«
»Habt Ihr das Johannisöl selbst hergestellt?«
»Jawohl, Sir. Ich habe die Blüten und die Blätter von
Hypericum perforatum
vor einigen Wochen mit Olivenöl angesetzt. Wenn nötig, ließe sich aus dem Öl auch eine Salbe machen.«
»Sehr schön.« Vitus konzentrierte sich wieder auf Manoel und stellte die Fragen, die er immer stellte: nach dem Stuhlgang, dem Wasserlassen, der allgemeinen Befindlichkeit. Als alles zu seiner Zufriedenheit beantwortet war, fragte er weiter: »Hattest du in letzter Zeit Fieber und rötlichen Ausschlag auf der Brust?«
»Nein.«
»Es heißt in der englischen Marine ›Nein, Sir‹, wenn niedrige Dienstgrade antworten. Bitte merke dir das.«
»Ja.«
»Es heißt auch ›Ja, Sir‹. Oder besser ›Aye, Sir‹. Kannst du dir das merken?«
»Äh, aye, Sir.«
»Hattest du in letzter Zeit häufiger ohne Grund Kopfschmerzen?«
»Nein, Sir.«
»Sehr gut.« Vitus war zufrieden. Der Mann schien nicht unter dem gefürchteten Fleckfieber, dem
Morbus lenticularis,
zu leiden, das von Girolamo Fracastoro, einem italienischen Arzt, vor gar nicht langer Zeit erstmals beschrieben und
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