Die Liebe des Wanderchirurgen
wieder?«
»Das weiß nur Gott allein«, sagte Nina.
Zwei Stunden später stand Vitus in der alten Schlosskapelle vor der Familiengruft. Viele seiner Ahnen schliefen an dieser Stelle den ewigen Schlaf, und auch Arlette, seine erste große Liebe, war hier bestattet. Sie war eine Cousine sechsten Grades gewesen und hatte sein Kind unter dem Herzen getragen. Doch dem Allmächtigen hatte es nicht gefallen, sie mit Vitus glücklich werden zu lassen. Er hatte die Pestilenz geschickt und Europa einmal mehr mit dem Schwarzen Tod geschlagen. Auch Arlette und ihr Kind waren Opfer der Seuche geworden, und Vitus, der sich wie durch ein Wunder nicht angesteckt hatte, war untröstlich gewesen. Ebenso wie Doktor Burns, der alte Dorfarzt, dessen Wissen die Katastrophe ebenfalls nicht verhindern konnte, wie Reverend Pound, der schwergewichtige Pfarrer, dessen Gebete anscheinend ungehört verhallten, und wie der Zwerg, dessen »lenzige Schallerei«, die er mit Flöten und Schalmeien produzierte, sich als wirkungslos erwies.
Niemand, nicht einmal der Magister, hatte Vitus aufzumuntern vermocht, bis der kleine Gelehrte schließlich einen letzten Versuch unternommen und OMNIA VINCIT AMOR in Arlettes Grabplatte geschlagen hatte.
»Die Liebe besiegt alles«, hatte er gesagt. »Sie besiegt Haß, Neid und Missgunst, sie überwindet Gewalt und Krieg, sie läßt Tränen trocknen und Trauer vergessen. Damit nicht genug, spendet sie Harmonie und neue Hoffnung – überall auf der Welt.«
Ein schöner Satz, der noch immer dastand – und noch immer seine Gültigkeit hatte. Wenn man von dem menschlichen Versagen des Magisters einmal absah.
Vitus murmelte: »Schlafe weiter in Frieden, Arlette, du hast mir über den Tod hinaus immer wieder geholfen, indem ich hier Zwiesprache mit dir halten durfte. Wie hättest du an meiner Stelle gehandelt? Hättest du mehr Verständnis als Nina für mich aufgebracht? Ist es richtig, was ich tun will?«
Lange wartete er auf eine Antwort. Doch diesmal kam sie nicht.
Da schlug er das Kreuz und verließ die Kapelle.
Eine weitere Stunde später befand Vitus sich in den Stallungen, wo er nach Telemach schaute, dem Sohn eines fünfundzwanzigjährigen Rappen namens Odysseus, der noch vom alten Lord geritten worden war. Vitus hatte beschlossen, auf Telemach nach Portsmouth zu reiten. Nicht erst in einigen Tagen, sondern bereits heute. Die Kälte, mit der Nina ihm seit der letzten Nacht begegnete, hatte ihn zutiefst verletzt. Er wollte fort, wollte auf andere Gedanken kommen, in der Hoffnung, bei seiner Rückkehr würde alles vergessen sein.
Keith, der junge Stallmeister, strich über den Hals des Hengstes, was dieser mit einem Spiel seiner Ohren beantwortete. »Wenn Ihr ihm nicht allzu sehr die Sporen gebt, wird er Euch sicher tragen, Mylord.«
»Danke, Keith, das glaube ich auch.«
»Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch nach Portsmouth begleiten. Ich habe schon mit Marth gesprochen, und sie meint, es sei besser, in diesen Zeiten eine Begleitung zu haben, auch wenn ihr der Ehemann ziemlich fehlen würde.« Keith grinste stolz. »Ich schlage vor, zwei Packpferde mitzunehmen. Ihr habt sicher viel zu transportieren, Mylord.«
»Nein, das habe ich nicht«, sagte Vitus und dachte, dass er nur das mitnehmen würde, was er auf Reisen immer mitnahm: seine alte Kiepe mit ein paar Kleidern und seinem chirurgischen Besteck, dazu ein Dutzend Kräutersäckchen mit den wirksamsten Heilpflanzen gegen die häufigsten Zipperlein. Ferner einen wehrhaften Wanderstock und ein ganz bestimmtes Paar Schuhe, nämlich gelbe Pantoffeln aus Fez, an denen viele Erinnerungen hingen und in denen es sich angenehm und leicht marschieren ließ.
Besonders die Kiepe als bewährtes Behältnis seiner Habe sah keineswegs eines Earls würdig aus. Sie war verwittert und in sich verzogen, doch hatte sie ihn um die halbe Welt begleitet und ihm stets Glück gebracht. Außerdem wies sie einen doppelten Boden auf, in dem er sein kostbarstes Buch verwahrte. Es hieß
De morbis hominorum et gradibus ad sanationem,
kurz
De morbis
genannt, war eintausendzweihundert Seiten stark und mit dem Wissen und den Anleitungen der alten Meisterärzte gespickt.
»Wie Ihr meint, Mylord.«
»Holdrio un fitzen Dampffetz!«
Vitus fuhr herum und erblickte den Zwerg. »Enano? Was willst denn du?«
»Wiewo, was willst denn du?«, äffte der Winzling ihn nach. »Will nich grieslerisch auf’m Kastell
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