Die Liebe des Wanderchirurgen
gib mir ein Zeichen.«
Kaum merklich senkten sich die Augenlider.
»Gut. Dein Leiden ist zu Ende«, wiederholte Vitus. »Ich trage dich nach oben. Nie wieder sollst du lebendig begraben sein.«
Er hob das Bündel Mensch auf und trug es gebückt zur Luke, wo er es mit einiger Anstrengung nach oben durch die Öffnung stemmte. Nachdem er selbst hinaufgeklettert war, trug er seinen Fund zum Operationstisch, um ihn zu untersuchen. Er hatte sich noch keine Gedanken gemacht, ob es sich bei dem Menschen um einen Mann, eine Frau oder ein Kind handelte, doch nun löste sich ein Zipfel des roten Stoffs, und ein schwarzes krauses Dreieck zwischen den Beinen sagte ihm, dass er es mit einer Frau zu tun hatte.
Das bedeutete, die Untersuchung würde schwierig werden. Der Anstand gebot, dass er sich nur den Kopf, die Schultern, die Arme und den unteren Teil der Beine ansehen durfte. Aber es gab noch eine andere Schwierigkeit: Mahon und seine Männer. Sie mussten jeden Augenblick hereinkommen, um den Ballast des Schiffs nach Kugeln zu durchsuchen. Das würde Unruhe, Lärm und neugierige Fragen mit sich bringen.
Was konnte er dagegen unternehmen? Nichts, die Suche nach den Kugeln musste sein, Befehl des Kapitäns. Aber er konnte die Frau nach oben in Doktor Halls Kammer tragen, wo die Luft ohnehin besser war. Dort konnte er sie mit der gebotenen Zurückhaltung untersuchen und erste Schritte zu ihrer Genesung einleiten. Alles andere würde sich finden.
Abermals hob er die Frau hoch und trug sie hinauf in die oberen Decks, wobei er überlegte, was er antworten sollte, wenn ihn jemand fragte, was er da habe. Aber es begegnete ihm niemand, und wenig später öffnete er schwer atmend mit einer Hand die Tür zur Kammer, wo er seine Last in einer der freien Kojen ablegte.
»So, das wär geschafft. Willst du einen Becher Wasser?«
Die Frau antwortete nicht, aber ihre Augen sahen ihn an. Er hätte nicht zu sagen vermocht, warum, aber irgendwie kam ihm ihr Blick hochmütig vor, was natürlich Unsinn war. Er holte einen Becher und einen Krug, goss Wasser ein und nahm den Kopf der Frau in seine Armbeuge, so wie er es schon einmal getan hatte. Er flößte ihr ein paar Tropfen ein und beobachtete, wie sie mit geschlossenen Augen trank. Als sie fertig war, sah sie ihn wieder an.
»Du wirst bald wieder unter den Lebenden weilen«, sagte er. Wie ist dein Name?«
Die Frau antwortete nicht.
»Ich bin Vitus von Collincourt, aber alle nennen mich nur Cirurgicus oder Sir.«
Die Frau schwieg.
Vitus zuckte mit den Schultern. Wenn er es recht bedachte, interessierte ihn der Name der Frau viel weniger als ihr Gesundheitszustand. Mit den Augen des Arztes musterte er Zoll für Zoll ihren Kopf. Er sah verwahrlost aus. Die schwarzen Haare waren ein schmutziges, schmieriges, verfilztes Gewirr, das zu einer Behausung von Läusen und Asseln geworden war. Die Augen, die ihn noch immer unverwandt ansahen, waren eisgrau – und strahlten eine Lebendigkeit aus, die nicht zu der übrigen Verfassung der Frau passte. Die Jochbeine standen stark hervor und wiesen Zeichen von Einblutungen auf. Die wächserne Farbe der Haut wurde unterbrochen von Flechten und Schrunden. Immerhin, die Nase schien unversehrt zu sein, obwohl sie von der Natur mit einer leichten Krümmung versehen worden war. Die Lippen waren schmal, spröde und rissig. Vitus spreizte sie auseinander und untersuchte die Zähne. Von den oberen Schneidezähnen fehlte der linke, er war kurz über dem Zahnhals abgebrochen, vielleicht auch herausgeschlagen worden. Von den unteren Schneidezähnen fehlten zwei. »Zeig mir deine Zunge.«
Die Frau tat, als gäbe es ihn nicht.
»Ich möchte deine Zunge sehen.«
Die Frau drehte den Kopf zur Seite.
Vitus wurde energisch, er packte das Kinn der Frau und drehte ihren Kopf wieder zu sich. »Hör gut zu, Lady Unbekannt, du zeigst dich ziemlich störrisch. Warum, weiß ich nicht, dein Zustand jedenfalls gibt dir keinerlei Anlass dazu. Ich werde dir jetzt etwas in aller Deutlichkeit sagen: Du könntest das starrsinnigste, hochnäsigste, verkommenste, niederträchtigste, wertloseste, gemeinste Stück Mensch auf dieser Welt sein, es würde mich nicht interessieren. Ich würde dich dennoch untersuchen, und ich würde dir dennoch helfen, weil ich Arzt bin. Ich bin Arzt aus Leidenschaft. Also mach keine Faxen, sperr den Mund auf, damit ich deine Zunge sehen kann.«
»Mierda!«
»Oh, du kannst auf einmal sprechen! Habe ich da ein Wort gehört? Das spanische Wort für
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