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Die Liebe des Wanderchirurgen

Die Liebe des Wanderchirurgen

Titel: Die Liebe des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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auf. Es gab ein schauerliches Geräusch in den Scharnieren und ein jämmerliches Wimmern obendrein. Irgendetwas kam ihm daran seltsam vor. Versuchsweise schloss er den Deckel wieder, und es herrschte Ruhe. Ruhe? Nein, das Wimmern war nach wie vor da. Er öffnete abermals den Deckel, und das Wimmern verstärkte sich.
    Es war ein Geräusch, das ihm bekannt vorkam.
    Wo hatte er es schon einmal gehört?
    Richtig, es war hier gewesen, hier im Behandlungsraum, und genau wie heute hatte er im Werk
De morbis
geblättert. Er hatte gedacht, es wäre eine Katze, daran erinnerte er sich genau, und er hatte außerdem gewünscht, sie möge eine gute Jägerin sein.
    Diesmal ließ Vitus den Deckel offen. Ein widerlicher, die Atemwege einschnürender Gestank drang von unten herauf. Fast hätte er sein Vorhaben aufgegeben, aber das fortwährende Wimmern hinderte ihn daran. Er band sich ein Tuch vor den Mund, ergriff die Laterne und begann den Abstieg in die Katakomben des Schiffs.
    Mit den Füßen tastend, erreichte er einen glitschigen Boden, der aus durchweichten Hölzern bestand. Er wollte sich aufrichten, aber es gelang nur halb. Die Raumhöhe – sofern von »Raum« die Rede sein konnte – betrug höchstens fünf Fuß. Er verharrte. Das Wimmern hatte aufgehört.
    War das Ganze nur Einbildung gewesen?
    Vitus hätte es nur zu gern geglaubt, aber nun setzte das Klagen wieder ein. Es kam von der Backbordseite, und mit jedem Schritt, den er in diese Richtung setzte, wurde es stärker. Er landete vor einer Tür mit einem starken Schloss. Das war verwunderlich. Was war hier unten so wichtig, dass es mit einem starken Schloss gesichert werden musste?
    Er rüttelte an dem Schloss.
    Das Wimmern erstarb.
    »Ist da drinnen jemand?«, rief er. Als er keine Antwort bekam, rüttelte er wieder an dem Schloss. Vergeblich. Wenn er wissen wollte, was oder wer sich hinter der Tür verbarg, musste er den Schlüssel für das Schloss haben. Zu diesem Zweck konnte er sich an McQuarrie oder Dorsey wenden, doch auf dem Schiff herrschte so viel Betrieb, dass er die Herren nicht behelligen wollte. Außerdem war keineswegs klar, ob sie den Schlüssel besaßen.
    Vitus kletterte zurück in seinen Behandlungsraum, nahm eine Bügelsäge, einen Knochenmeißel und einen Hammer und erschien wenig später wieder vor der Tür. Von einem Wimmern oder Klagen war kein Deut mehr zu vernehmen. Doch er ließ sich nicht beirren. Nachdem die Säge sich als unbrauchbar erwiesen hatte, weil ihre Zähne zu weich waren, brach er mit ein paar kräftigen Schlägen das Schloss aus der Verankerung. Es fiel scheppernd zu Boden, und die Tür schwang knarrend nach innen auf.
    Vitus gab ihr einen Stoß, so dass sie sich ganz öffnete. Er hielt die Lampe in den Raum und sah – nichts. Nichts außer einem Kübel, etwas Stroh und einem Bündel Lumpen am Boden. Er trat näher. Von irgendwoher musste das Wimmern kommen, und er war sicher, dass er kurz vor der Lösung des Rätsels stand.
    Das Bündel Lumpen am Boden regte sich.
    Die Bewegung kam so plötzlich, dass Vitus erschrak und einen Schritt zurückwich. Doch er fasste sich schnell. Stoff bewegte sich nicht von allein, irgendeine Kraft musste dafür gesorgt haben. Wahrscheinlich ein Muskel. Der Muskel eines Tiers. Oder der Muskel eines Menschen.
    Eines Menschen?
    War es möglich, dass ein Mensch in diesem stinkenden, widerwärtigen Abgrund vor sich hinvegetierte? Er beugte sich hinunter und leuchtete mit der Laterne das Bündel Stoff ab. Der Stoff war einmal rot gewesen, rot und schwarz. Nein, das Schwarze war kein Stoff, es waren – Haare.
    »Kannst du mich hören?«, rief Vitus. »Wer hat dich hier eingeschlossen? Wie lange steckst du schon in diesem Loch?«
    Die Antwort blieb aus, und Vitus schalt sich ob seiner vielen Fragen, denn dieser Mensch hatte sicher andere Sorgen, als seinen Wissensdurst zu stillen. »Ich helfe dir.« Er stellte die Laterne ab, kniete nieder und hob den Kopf des Menschen an, bis dieser in seiner Armbeuge lag. Dann drehte er den Kopf behutsam zu sich, damit er das Gesicht sehen konnte.
    Was er sah, war kein Gesicht.
    Was er sah, war ein mit Haut überspannter Totenschädel, aus dem ihn zwei Augen wie Fremdkörper anstarrten.
    Er hatte schon vieles erlebt, aber nie zuvor war ihm ein so grauenerregender Anblick begegnet.
    »Mein Name ist Vitus von Collincourt«, sagte er rauh, »ich bin Schiffsarzt und Cirurgicus hier an Bord. Dein Leiden ist zu Ende. Wenn du mich verstehen kannst, sage irgendetwas, oder

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