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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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drinnen war und einen Einbruch verübte. Am Tage schlief er oft in aller Öffentlichkeit. Bei schlechtem Wetter schlief er in der Stadtbücherei, und bei gutem suchte er sich einen Sitzplatz im Freien. Er verbrachte nicht viel Zeit auf dem Polizeirevier, wahrscheinlich, weil er zu schwerhörig war, um den Gesprächen ohne sein Hörgerät im Ohr folgen zu können, und wie viele schwerhörige Menschen hasste er sein Hörgerät. Außerdem war er es natürlich gewohnt, allein zu sein und von der Brücke seines Schiffes den Blick über die Großen Seen schweifen zu lassen.
    Seine Augen waren geschlossen und sein Kopf nach hinten geneigt, damit ihm die Sonne ins Gesicht schien. Als sie hinübergingen, um mit ihm zu reden (und die Entscheidung, das zu tun, wurde – abgesehen von einem resignierten und zweifelnden Blickwechsel – ohne jede Beratung getroffen), mussten sie ihn aus seinem Nickerchen aufwecken. Er brauchte einen Moment, um sich zu besinnen – wo und wann und wer. Dann zog er eine große, altmodische Uhr aus der Tasche, als rechnete er darauf, dass Kinder immer wissen wollten, wie spät es war. Aber sie redeten weiter auf ihn ein, mit aufgeregten Mienen und etwas verschämt. Sie sagten: »Mr. Willens is draußen im Skagerrakteich« und »Wir ham’s Auto gesehn« und »Ertrunken«. Er musste die Hand erheben und beruhigende Bewegungen machen, während die andere in der Hosentasche grub und mit dem Hörgerät herauskam. Er nickte ihnen ernst, ermutigend zu, als wollte er sagen: Geduld, Geduld, während er sich das Gerät ins Ohr steckte. Dann hob er beide Hände – Seid still, seid still –, während er es ausprobierte. Schließlich ein weiteres Kopfnicken, von forscherer Art, und mit strenger Stimme – wobei er sich über seine Strenge bis zu einem gewissen Grad lustig machte – sagte er: »Dann man los.«
    Ausgerechnet Cece, der Stillste von den dreien – wie Jimmy der Höflichste war und Bud der Vorlauteste – war es, der alles herumriss.
    »Ihr Hosenstall is auf«, sagte er.
    Dann johlten alle drei und rannten fort.
     
    Ihr Übermut verschwand zwar nicht gleich, war jedoch nichts, was sie miteinander teilen oder bereden konnten: Sie mussten sich trennen.
    Cece ging nach Hause, um an seinem Versteck zu arbeiten. Der im Winter hartgefrorene Pappfußboden war jetzt aufgeweicht und musste ersetzt werden. Jimmy kletterte auf den Dachboden der Garage, wo er vor kurzem eine Kiste mit alten Doc-Savage-Heften entdeckt hatte, die einmal seinem Onkel Fred gehört hatten. Bud ging nach Hause und traf niemanden an, nur seine Mutter, die den Fußboden des Esszimmers bohnerte. Er sah sich etwa eine Stunde lang Comichefte an, dann erzählte er es ihr. Er glaubte, dass seine Mutter außerhalb ihres Hauses keinerlei Erfahrung oder Kompetenz besaß und erst entscheiden würde, was zu tun sei, nachdem sie seinen Vater angerufen hatte. Zu seiner Überraschung rief sie sofort die Polizei an. Erst danach rief sie seinen Vater an. Und jemand ging Cece und Jimmy holen.
    Ein Polizeiauto fuhr von der Landstraße ab zum Skagerrak, und alles bestätigte sich. Ein Polizist und der anglikanische Pfarrer gingen zu Mrs. Willens.
    »Ich mochte Sie nicht behelligen«, soll Mrs. Willens gesagt haben. »Ich wollte ihm noch bis Einbruch der Dunkelheit geben.«
    Sie erzählte ihnen, dass Mr. Willens tags zuvor aufs Land gefahren war, um einem alten blinden Mann Augentropfen zu bringen. Manchmal wurde er aufgehalten, sagte sie. Er machte Besuche, oder das Auto hatte eine Panne.
    War er lebensmüde oder so etwas? fragte der Polizist sie.
    »Ganz bestimmt nicht«, sagte der Pfarrer. »Er war die tragende Säule des Kirchenchors.«
    »Dieses Wort gab es in seinem Wortschatz nicht«, sagte Mrs. Willens.
    Es wurde viel darüber geredet, dass die Jungen sich hingesetzt und ihr Mittagbrot gegessen und kein Wort gesagt hatten. Und dann auch noch Lakritzstangen gekauft hatten. Ein neuer Spitzname – Totmann – wurde gefunden und jedem von ihnen verliehen. Jimmy und Bud trugen ihn, bis sie aus der Stadt fortgingen, und Cece – der jung heiratete und beim Getreidesilo arbeitete – erlebte, wie er auf seine beiden Söhne überging. Zu der Zeit dachte niemand mehr daran, worauf er sich bezog. Die Frechheit gegenüber Captain Tervitt blieb ein Geheimnis.
    Jeder der drei erwartete einen Denkzettel, einen gebieterischen Blick der Verletzung oder Verurteilung, als sie das nächste Mal unter seinem erhobenen Arm vorbeigehen mussten, um die

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