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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Straße zur Schule zu überqueren. Aber er hielt mit gewohnter, wohlwollender Gemessenheit die behandschuhte Hand hoch, seine vornehme weiße Clownshand. Er erteilte seine Erlaubnis.
    Dann man los.

II. Herzversagen
    »Glomerulonephritis« schrieb Enid in ihr Tagebuch. Es war der erste Fall, den sie je gesehen hatte. Mrs. Quinns Nieren versagten, und daran war nichts zu machen. Ihre Nieren vertrockneten und verwandelten sich in harte und nutzlose, körnige Klumpen. Ihr Urin war zurzeit spärlich und hatte ein rauchiges Aussehen, und der Geruch, der mit ihrem Atem und durch ihre Haut ausströmte, war beißend und unheilverkündend. Und da war noch ein anderer, schwächerer Geruch nach verfaultem Obst, der für Enid mit den blassen, lavendelbraunen Flecken verbunden schien, die sich auf ihrem Körper bildeten. Ihre Beine zuckten in plötzlichen Schmerzkrämpfen, und ihre Haut wurde von heftigem Juckreiz gepeinigt, sodass Enid sie mit Eis abreiben musste. Sie wickelte das Eis in Handtücher und drückte es auf die quälenden Stellen.
    »Wie zieht man sich solch eine Krankheit überhaupt zu?«, fragte Mrs. Quinns Schwägerin. Sie hieß Mrs. Green. Olive Green. (Es war ihr nie in den Sinn gekommen, wie sich das anhören würde, sagte sie, bis sie verheiratet war und plötzlich alle darüber lachten.) Sie lebte auf einer ein paar Meilen entfernten Farm, draußen am Highway, und sie kam alle paar Tage und nahm die Bettwäsche und Handtücher und Nachthemden zum Waschen mit nach Hause. Sie wusch auch die Sachen der Kinder und brachte alles frischgebügelt und zusammengelegt zurück. Sie bügelte sogar die Borten an den Nachthemden. Enid war ihr dankbar – sie hatte Stellungen gehabt, wo sie die Wäsche selbst erledigen oder, schlimmer noch, ihrer Mutter aufbürden musste, die sie dann in die Stadt brachte und dafür bezahlte. Da sie nicht unhöflich sein wollte, aber merkte, in welche Richtung die Fragen zielten, antwortete sie: »Das lässt sich schwer sagen.«
    »Denn man hört ja so allerhand«, sagte Mrs. Green. »Man hört ja, dass Frauen manchmal bestimmte Tabletten nehmen. Sie bekommen sie verschrieben, wenn ihre Regel sich verspätet hat, und wenn sie sie so nehmen, wie der Doktor gesagt hat, und für einen guten Zweck, dann ist es in Ordnung, aber wenn sie zu viele nehmen und für einen schlechten Zweck, dann machen sie sich die Nieren kaputt. Hab ich recht?«
    »Ich bin nie mit solch einem Fall in Berührung gekommen«, sagte Enid.
    Mrs. Green war eine große, korpulente Frau. Wie ihr Bruder Rupert, der Mann von Mrs. Quinn, hatte sie ein rundes, stupsnasiges Gesicht mit Lachfältchen – die Sorte, die Enids Mutter »Kartoffel-irisch« nannte. Aber hinter Ruperts gutmütiger Miene verbargen sich Vorsicht und Verschlossenheit. Und hinter der von Mrs. Green Sehnsucht. Enid wusste nicht, wonach. Ins einfachste Gespräch trug Mrs. Green ein großes Verlangen. Vielleicht war es nur ein Verlangen nach Neuigkeiten. Neuigkeiten von etwas Bedeutsamem. Einem Ereignis.
    Natürlich stand ein Ereignis bevor, etwas zumindest für diese Familie Bedeutsames. Mrs. Quinn lag im Sterben, mit 27  Jahren. (Das war das Alter, das sie sich selbst gab – Enid hätte einige Jahre dazugetan, aber sobald eine Krankheit so weit fortgeschritten war, ließ sich das Alter schwer schätzen.) Wenn ihre Nieren zu arbeiten aufhörten, würde ihr Herz versagen, und sie würde sterben. Der Arzt hatte zu Enid gesagt: »Sie werden bis in den Sommer zu tun haben, aber es besteht Aussicht, dass Sie ein bisschen Urlaub machen können, bevor das warme Wetter vorbei ist.«
    »Rupert hat sie kennengelernt, als er rauf in den Norden gegangen ist«, sagte Mrs. Green. »Er hat sich ganz allein aufgemacht und im Wald gearbeitet. Sie war dort in einem Hotel, ich weiß nicht, als was. Zimmermädchen oder so. Sie ist dort aber nicht aufgewachsen – sie sagt, sie ist in einem Waisenhaus in Montreal aufgewachsen. Dafür kann sie ja nichts. Man sollte meinen, dass sie Französisch beherrscht, aber wenn, dann lässt sie sich’s nicht anmerken.«
    Enid sagte: »Ein interessantes Leben.«
    »Das können Sie laut sagen.«
    »Ein interessantes Leben«, sagte Enid laut. Manchmal konnte sie nicht anders – sie probierte es mit einem Witz, auch wenn kaum eine Chance bestand, dass er ankam. Sie zog ermutigend die Augenbrauen hoch, und tatsächlich lächelte Mrs. Green.
    Aber war sie gekränkt? Es war genau das Lächeln, das Rupert immer aufsetzte, in der

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