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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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etwas zur Ruhe kommen ließen. »Allerdings schläft sie sehr früh ein«, sagte sie. »Das macht es Ihnen schwer, etwas von Ihrem Besuch zu haben.«
    »Besser, sie ruht sich aus«, sagte Rupert.
    Dieses geflüsterte Gespräch erinnerte Enid an Gespräche in der Highschool, als sie beide in der letzten Klasse waren und jenes frühere Hänseln oder grausame Kokettieren, oder was es auch war, lange hinter ihnen lag. In diesem ganzen letzten Jahr hatte Rupert auf dem Platz hinter ihr gesessen, und sie hatten oft miteinander gesprochen, kurz und immer zu einem unmittelbaren Zweck. Hast du einen Tintenratze? Wie schreibt man »Parallele«? Wo ist das Tyrrhenische Meer? Für gewöhnlich war es Enid, die diese Gespräche anfing, sich halb umdrehte und nicht sehen, nur spüren konnte, wie nah Rupert war. Sie wollte sich wirklich einen Radiergummi borgen, sie brauchte Informationen, aber sie wollte auch Kontakt aufnehmen. Und sie wollte etwas wiedergutmachen – sie schämte sich dafür, wie sie und ihre Freundinnen ihn behandelt hatten. Sich zu entschuldigen, kam nicht in Frage – das würde ihn nur wieder in Verlegenheit stürzen. Er fühlte sich nur wohl, wenn er hinter ihr saß und wusste, dass sie ihm nicht ins Gesicht schauen konnte. Wenn sie sich auf der Straße begegneten, sah er bis zum letzten Moment weg und murmelte dann die leiseste Begrüßung, während sie »Hallo, Rupert« posaunte und ein Echo jener quälenden Töne hörte, die sie verbannen wollte.
    Aber wenn er ihr tatsächlich mit dem Finger auf die Schulter tippte, damit sie ihm zuhörte, wenn er sich vorbeugte und ihr kräftiges Haar, das selbst kurzgeschnitten ungebärdig war, fast oder vielleicht wirklich berührte – sie war sich nicht ganz sicher –, dann hatte sie das Gefühl, ihr war vergeben worden. Sie fühlte sich sogar geehrt. Wieder ernst genommen und geachtet.
    Wo, wo genau liegt das Tyrrhenische Meer?
    Sie fragte sich, ob er sich jetzt überhaupt noch daran erinnerte.
    Sie teilte die Zeitung in die vorderen und die hinteren Seiten auf. Margaret Truman besuchte England und hatte vor der königlichen Familie geknickst. Die Ärzte des Königs versuchten, dessen Buerger-Krankheit mit Vitamin E zu heilen.
    Sie bot Rupert die vorderen Seiten an. »Ich werde mir das Kreuzworträtsel vornehmen«, sagte sie. »Ich mache gern Kreuzworträtsel – das entspannt mich am Ende des Tages.«
    Rupert setzte sich und begann die Zeitung zu lesen, und sie fragte ihn, ob er eine Tasse Tee wolle. Nur keine Umstände, sagte er natürlich, aber sie brühte trotzdem welchen auf, denn sie verstand, dass diese Antwort in der ländlichen Ausdrucksweise sehr wohl ein Ja bedeuten konnte.
    »Das Thema ist Südamerika«, sagte sie und studierte das Kreuzworträtsel. »Lateinamerika. Eins waagerecht ist ein musikalischer …
Vorsprung
. Ein musikalischer Vorsprung? Vorsprung. Viele Buchstaben. Ah! Ich habe Glück heute Abend. Kap Horn!
    Da sehen Sie, wie albern sie sind, diese Dinger«, sagte sie und stand auf und schenkte Tee ein.
    Falls er sich doch erinnerte, nahm er ihr noch etwas übel? Vielleicht war ihm ihre unbeschwerte Freundlichkeit im letzten Schuljahr ebenso unangenehm gewesen, ebenso überheblich vorgekommen wie jene frühere Verhöhnung?
    Als sie ihn zum ersten Mal in diesem Haus sah, dachte sie, dass er sich nicht sehr verändert hatte. Früher war er ein großer, kräftig gebauter Junge mit rundem Gesicht, und nun war er ein großer, schwerer Mann mit rundem Gesicht. Da er die Haare immer sehr kurz getragen hatte, war kaum zu merken, dass es weniger geworden waren und ihr Hellbraun sich in Graubraun verwandelt hatte. Eine dauerhafte Sonnenbräune war an die Stelle seiner Schamröte getreten. Und wenn ihm etwas zu schaffen machte und sich auf seinem Gesicht zeigte, dann vielleicht dasselbe wie damals – das Problem, in der Welt Raum einzunehmen und einen Namen zu haben, bei dem andere ihn rufen konnten, jemand zu sein, den andere zu kennen meinten.
    Enid dachte daran, wie sie alle in der letzten Klasse saßen. Einer mittlerweile kleinen Klasse – in fünf Jahren waren die Lernfaulen, die Achtlosen und die Gleichgültigen abgebröckelt, hatten Platz gemacht für diese groß gewordenen, ernsten und gelehrigen Kinder, die Trigonometrie und Latein büffelten. Was hatten sie für Vorstellungen von dem Leben, auf das sie sich vorbereiteten? Was hatten sie für Vorstellungen von dem, was einmal aus ihnen werden würde?
    Enid sah immer noch den dunkelgrünen,

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