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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Atem oft rau und schwer ging. Was Enid aufweckte und wach hielt, war ein eigenes Problem. Sie hatte neuerdings hässliche Träume. Ganz andere Träume als je zuvor. Albträume waren bisher für sie solche, die sie in ein unbekanntes Haus versetzten, in dem die Zimmer sich ständig veränderten und es immer wieder viel mehr zu tun gab, als sie bewältigen konnte, ungetane Arbeit, die sie meinte, getan zu haben, unzählige Ablenkungen. Und dann hatte sie natürlich, was sie in Gedanken ihre romantischen Träume nannte, in denen ein Mann den Arm um sie gelegt hatte oder sie sogar küsste. Es konnte ein Fremder sein oder ein Mann, den sie kannte – manchmal ein Mann, bei dem solch eine Vorstellung vollkommen lächerlich war. Diese Träume machten sie nachdenklich oder ein wenig traurig, gewährten ihr aber auch die Erleichterung, dass ihr solche Gefühle nicht fremd waren. Sie konnten peinlich sein, waren aber nichts, überhaupt nichts im Vergleich zu den Träumen, die sie jetzt hatte. In den Träumen, die ihr jetzt kamen, hatte sie Geschlechtsverkehr oder wollte ihn (manchmal wurde sie von Eindringlingen oder veränderten Umständen daran gehindert) mit gänzlich verbotenen und undenkbaren Partnern. Mit dicken, strampelnden Babys oder bandagierten Patienten oder ihrer eigenen Mutter. Sie war glitschig vor Lust, stöhnte ausgehöhlt und ging grob ans Werk, machte rücksichtslos das Beste aus den Gegebenheiten. »Ja, das muss genügen«, sagte sie zu sich. »Das muss eben genügen, solange nichts anderes da ist.« Und diese Kaltherzigkeit, diese widernatürliche Sittenlosigkeit peitschte ihre Lust nur noch höher. Sie wachte auf, ohne Reue zu empfinden, verschwitzt und erschöpft, und lag da wie eine Leiche, bis ihr eigenes Ich, ihre Scham und ihr ungläubiges Entsetzen in sie zurückströmten. Der Schweiß erkaltete auf ihrer Haut. Sie lag fröstelnd in der warmen Nacht, gedemütigt und von Ekel geschüttelt. Sie wagte nicht, wieder einzuschlafen. Ihre Augen gewöhnten sich ans Dunkel, und die hohen Rechtecke der gardinenverhängten Fenster füllten sich mit schwachem Licht. Und dem Atem der kranken Frau, der knirschte und schimpfte und dann fast verschwand.
    Wenn sie katholisch wäre, dachte sie, wäre das dann etwas, das bei der Beichte zur Sprache kommen konnte? Ihr kam es vor wie etwas, das sie nicht einmal im stillen Gebet hervorbringen konnte. Sie betete nicht mehr viel, nur noch der Form halber, und es kam ihr vollkommen sinnlos, sogar respektlos vor, die Erlebnisse, die ihr gerade widerfahren waren, Gott zur Kenntnis zu bringen. Es wäre für ihn eine Beleidigung. Es war ja für sie eine Beleidigung, durch ihre eigene Phantasie. Ihr Glaube war hoffnungsvoll und vernünftig, und es gab darin keinen Platz für irgendein geschmackloses Drama wie das Eindringen des Teufels in ihren Schlaf. Der Schmutz in ihrer Phantasie war in ihr, und es brachte nichts, ihn zu dramatisieren und ihm den Anschein von Wichtigkeit zu geben. Ganz bestimmt nicht. Es war nichts, nur der Müll der Phantasie.
    Auf der kleinen Wiese zwischen dem Haus und dem Flussufer standen Kühe. Enid konnte sie bei ihrer nächtlichen Futtersuche kauen und einander streifen hören. Sie dachte an ihre großen, sanften Gestalten da draußen inmitten von Moschuskraut und Wegwarte und den blühenden Gräsern, und sie dachte: Ein schönes Leben haben sie, die Kühe.
    Es endete natürlich im Schlachthaus. Das Ende ist furchtbar.
    Jedoch für alle dasselbe. Das Böse packt uns, während wir schlafen; Schmerz und Zerfall lauern auf uns. Körperliche Gräuel, alle schlimmer, als man sie sich vorher ausmalen kann. Der Trost, den das Bett und der Atem der Kühe spenden, das Muster der Sterne bei Nacht – all das kann binnen eines Augenblicks auf den Kopf gestellt werden. Und da war sie, da war Enid, arbeitete, bis ihr Leben vorbei war, und tat, als wäre es nicht so. Versuchte, den Menschen Linderung zu geben. Versuchte, gut zu sein. Ein Engel der Barmherzigkeit, wie ihre Mutter sagte, im Laufe der Zeit mit immer weniger Ironie. Auch Patienten und Ärzte sagten es.
    Und wie viele dachten die ganze Zeit, dass sie dumm war? Die Menschen, für die sie sich anstrengte, verachteten sie vielleicht insgeheim. Dachten, wenn sie an ihrer Stelle wären, würden sie das nie im Leben tun. Nie so dumm sein. Nein.
    Arme Sünder
, kam ihr in den Sinn.
Arme Sünder
.
    Erbarme dich derer, die Buße tun.
    Sie stand auf und ging an die Arbeit; in ihren Augen war das die beste

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