Die Liebe einer Frau
abgegriffenen Einband eines Buchs mit dem Titel
Geschichte der Renaissance und der Reformation
vor sich. Es war schon durch manche, durch viele Hände gegangen – niemand kaufte sich je ein neues Lehrbuch. Auf der Innenseite hatten sämtliche Vorbesitzer ihre Namen eingetragen, einige davon inzwischen Hausfrauen oder Ladenbesitzer in mittleren Jahren. Unvorstellbar, dass diese Leute sich mit so etwas beschäftigt oder »Das Edikt von Nantes« mit roter Tinte unterstrichen und »N. B.« an den Rand geschrieben hatten.
Das Edikt von Nantes.
Die völlige Nutzlosigkeit, die absurde Fremdartigkeit der Dinge in jenen Büchern und in den Köpfen der Schüler, damals auch in ihrem und in Ruperts Kopf, erfüllten Enid mit liebevoller Verwunderung. Nicht, dass sie sich vorgenommen hatten, etwas zu sein, was sie nicht geworden waren. Nichts dergleichen. Rupert hatte sich bestimmt nichts anderes vorgestellt, als seine Farm zu bewirtschaften. Es war eine gute Farm, und er war der einzige Sohn. Und sie selbst tat am Ende genau das, was sie offenbar schon damals hatte tun wollen. Man konnte nicht sagen, dass sie das falsche Leben gewählt oder gegen ihren Willen gewählt oder ihre Wahl nicht verstanden hatten. Sie hatten nur nicht verstanden, wie die Zeit vergehen und aus ihnen nicht mehr, sondern vielleicht ein bisschen weniger machen würde.
»›Brot des Amazonas‹«, sagte sie. »›Brot des Amazonas‹?«
Rupert sagte: »Maniok?«
Enid zählte nach. »Sieben Buchstaben«, sagte sie. »Sieben.«
Er sagte: »Kassawa?«
»Kassawa? Mit Doppel-s? Kassawa.«
Mrs. Quinn wurde täglich launischer mit dem Essen. Manchmal sagte sie, sie wolle Toast oder Bananen mit Milch darüber. Eines Tages verlangte sie Erdnussbutterplätzchen. Enid bereitete alle diese Dinge zu – notfalls konnten die Kinder sie essen –, und wenn sie fertig waren, konnte Mrs. Quinn ihren Anblick oder Geruch nicht ertragen. Sogar Wackelpeter hatte einen Geruch, den sie nicht ertragen konnte.
An manchen Tagen hasste sie alle Geräusche; sie wollte nicht einmal, dass der Ventilator lief. An anderen Tagen wollte sie Radio hören, sie wollte den Sender, der Hörerwünsche zu Geburtstagen und Hochzeitstagen erfüllte und Leute anrief, um ihnen Fragen zu stellen. Wenn man die richtige Antwort wusste, gewann man eine Reise zu den Niagarafällen, eine Tankfüllung Benzin oder einen Präsentkorb oder Kinokarten.
»Das ist alles abgekartet«, sagte Mrs. Quinn. »Die tun nur so, als würden sie irgendwen anrufen – dabei sitzt der im Nebenzimmer und die Antwort ist ihm gesteckt worden. Ich kannte mal einen, der bei einem Sender gearbeitet hat, so ist es in Wahrheit.«
An diesen Tagen ging ihr Puls rasch. Sie redete sehr schnell, mit heller, atemloser Stimme. »Was für ein Auto hat Ihre Mutter?«, fragte sie.
»Ein kastanienbraunes Auto«, sagte Enid.
»Welche
Marke
?«, fragte Mrs. Quinn.
Enid sagte, sie wisse es nicht, was der Wahrheit entsprach. Sie hatte es gewusst, aber vergessen.
»War es neu, als sie’s bekam?«
»Ja«, sagte Enid. »Ja. Aber das ist drei oder vier Jahre her.«
»Sie wohnt in dem großen Steinhaus gleich neben den Willenses?«
»Ja«, sagte Enid.
»Wie viele Zimmer hat das? Sechzehn?«
»Zu viele.«
»Waren Sie auf Mr. Willens’ Beerdigung, als er ertrunken ist?«
Enid sagte nein. »Ich mache mir nichts aus Beerdigungen.«
»Ich wollte eigentlich hin. Damals war ich noch nicht so krank, ich wollte mit den Herveys den Highway rauf, sie haben gesagt, ich könnte bei ihnen mitfahren, aber dann wollten ihre Mutter und ihre Schwester mit, und hinten war nicht mehr genug Platz. Dann sind Clive und Olive mit dem Laster gefahren, und ich hätt mich mit auf die Sitzbank quetschen können, aber die haben mich nicht mal gefragt. Meinen Sie, er hat sich ertränkt?«
Enid dachte daran, wie Mr. Willens ihr eine Rose überreichte. An seine schelmische Galanterie, von der ihr die Zahnwurzeln wehtaten wie von zu viel Zucker.
»Ich weiß nicht. Ich glaube kaum.«
»Sind er und Mrs. Willens gut miteinander ausgekommen?«
»Soweit ich weiß, sind sie hervorragend miteinander ausgekommen.«
»Ach, ja?«, sagte Mrs. Quinn und versuchte, Enids distanzierten Tonfall nachzuahmen. »Hä-fohr-rah-gint.«
Enid schlief auf der Couch in Mrs. Quinns Zimmer.Mrs. Quinns entsetzlicher Juckreiz war fast verschwunden, ebenso wie ihr Bedürfnis, Wasser zu lassen. Sie schlief den größten Teil der Nacht durch, auch wenn anfallweise ihr
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