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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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genommen hatte und eingeschlafen war. Dann saß er mit Enid zusammen. Er brachte ihr immer die Zeitung mit. Er fragte, was sie in ihre Tagebücher schrieb – ihm war aufgefallen, dass es zwei gab –, und sie erzählte es ihm. Eins für den Arzt, in dem sie Blutdruck, Puls und Temperatur festhielt, was gegessen, erbrochen und ausgeschieden worden war, die eingenommenen Medikamente und schließlich eine Zusammenfassung vom Zustand der Patientin. Im anderen, für sie selbst bestimmten notierte sie oft dieselben Dinge, wenn auch weniger genau, dazu kamen Angaben über das Wetter, und das, was ringsum geschah. Und über Erinnernswertes.
    »Zum Beispiel habe ich mir neulich etwas aufgeschrieben«, sagte sie. »Etwas, was Lois gesagt hat. Lois und Sylvie sind hereingekommen, als Mrs. Green hier war, und Mrs. Green hat davon gesprochen, dass die Brombeersträucher langsam den Weg überwuchern, und Lois hat gesagt: ›Wie in Dornröschen.‹ Weil ich ihnen das Märchen vorgelesen hatte. Das habe ich mir notiert.«
    Rupert sagte: »Ich muss den Brombeerranken beikommen und sie zurückschneiden.«
    Enid hatte den Eindruck, ihm gefiel, was Lois gesagt hatte, auch, dass sie es aufgeschrieben hatte, es war ihm nur nicht möglich, das zu äußern.
    Eines Abends erzählte er ihr, dass er für ein paar Tage fort wollte, zu einer Viehauktion. Er hatte den Arzt gefragt, ob das ginge, und der Arzt hatte gesagt, er könnte ruhig fahren.
    An diesem Abend war er gekommen, bevor die letzten Tabletten verabreicht worden waren, und Enid nahm an, dass er Wert darauf legte, seine Frau vor seiner kleinen Reise wach anzutreffen. Sie sagte ihm, doch gleich in Mrs. Quinns Zimmer zu gehen, und er tat es und machte die Tür hinter sich zu. Enid nahm sich die Zeitung und dachte daran, nach oben zu gehen, aber die Kinder schliefen wahrscheinlich noch nicht; sie würden einen Vorwand finden, um sie hereinzurufen. Sie konnte sich auf die Veranda setzen, aber um diese Tageszeit sirrten da Moskitos, besonders nach einem heftigen Regenschauer wie dem vom Nachmittag.
    Sie hatte Angst, etwas Vertrauliches oder vielleicht Anflüge eines Streits zu belauschen, und Rupert dann begegnen zu müssen, wenn er herauskam. Mrs. Quinn sammelte sich zu einer Abrechnung – dessen war Enid sicher. Und bevor sie sich entschieden hatte, wohin sie gehen sollte, erlauschte sie tatsächlich etwas. Nicht die Schuldzuweisungen oder (wenn das möglich war) die Koseworte oder vielleicht sogar die Tränen, die sie halb erwartet hatte, sondern Gelächter. Sie hörte Mrs. Quinn leise lachen, und in dem Gelächter lagen ein Hohn und eine Genugtuung, wie sie Enid schon früher gehört hatte, aber auch etwas, was sie noch nicht gehört hatte, noch nie in ihrem Leben – etwas vorsätzlich Böses. Sie rührte sich nicht von der Stelle, obwohl sie es hätte tun müssen, und sie stand immer noch am Tisch, sie starrte immer noch die Tür des Wohnzimmers an, als er einen Moment später herauskam. Er mied nicht ihren Blick – oder sie den seinen. Sie konnte es nicht. Doch sie hätte nicht mit Sicherheit zu sagen vermocht, ob er sie wahrnahm. Er sah sie nur an und ging hinaus. Er wirkte, als hätte er einen elektrischen Draht berührt und bäte um Verzeihung – wen? –, dass sein Körper dieser dummen Katastrophe ausgeliefert war.
    Am nächsten Tag kam Mrs. Quinns Kraft zurückgeströmt, in jener unnatürlichen und trügerischen Weise, die Enid schon ein- oder zweimal bei anderen gesehen hatte. Mrs. Quinn wollte sich mit den Kissen im Rücken aufsetzen. Sie wollte den Ventilator angestellt haben.
    Enid sagte: »Eine gute Idee.«
    »Ich könnte Ihnen was erzählen, was Sie nicht glauben würden«, sagte Mrs. Quinn.
    »Die Leute erzählen mir viele Dinge«, sagte Enid.
    »Klar. Lügen«, sagte Mrs. Quinn. »Alles Lügen, jede Wette. Wissen Sie, dass Mr. Willens hier in diesem Zimmer war?«

III. Fehler
    Mrs. Quinn hatte im Schaukelstuhl gesessen, damit ihre Augen untersucht wurden, und Mr. Willens war dicht vor ihr mit dem Ding an ihren Augen gewesen, und keiner von beiden hörte Rupert hereinkommen, denn eigentlich sollte er unten am Fluss Holz fällen. Aber er hatte sich zurückgeschlichen. Er schlich sich zur Küche herein, ohne ein Geräusch zu machen – er musste das Auto von Mr. Willens gesehen haben, bevor er das tat –, dann machte er ganz leise die Tür zu diesem Zimmer auf, bis er Mr. Willens da knien sah, er hielt ihr das Ding an die Augen und hatte die andere

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