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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Straßenhändlern. Wenn er dort ist, wird er sich natürlich inzwischen völlig akklimatisiert haben. Ich weiß nicht, was ich erwarten soll. Ich kann ihn völlig den Eingeborenen angepasst sehen, ich kann ihn aber auch hübsch etabliert sehen, mit einer kleinen braunen Frau, die ihn bedient. Wie er am Swimmingpool Obst isst. Oder er könnte herumgehen und für die Armen betteln.«
    Kent erinnerte sich an etwas. An die Nacht der Party auf dem Strand. Cottar, der nichts weiter anhatte als ein ungenügendes Handtuch, war auf ihn zugekommen und hatte ihn gefragt, was er als Pharmazeut über Tropenkrankheiten wusste.
    Aber das war ihm nicht ungewöhnlich vorgekommen. Jeder, der dorthin fuhr, wo Cottar hinfuhr, hätte das auch fragen können.
    »Du denkst an Indien«, sagte er zu Sonje.
    Er war jetzt stabilisiert, die Tablette hatte seinen inneren Funktionen wieder einige Verlässlichkeit gegeben und das zum Stillstand gebracht, was sich wie das Auslaufen des Rückenmarks angefühlt hatte.
    »Soll ich dir einen Grund sagen, warum ich weiß, dass er nicht tot ist?«, sagte Sonje. »Ich träume nicht von ihm. Ich träume aber von Toten. Ich träume andauernd von meiner Schwiegermutter.«
    »Ich träume nie«, sagte Kent.
    »Jeder träumt«, sagte Sonje. »Du erinnerst dich nur nicht daran.«
    Er schüttelte den Kopf.
    Kath war nicht tot. Sie lebte in Ontario. Im Haliburton-Distrikt, gar nicht weit von Toronto.
    »Weiß deine Mutter, dass ich hier bin?«, hatte er Noelle gefragt. Und sie hatte geantwortet: »Ich glaube schon. Doch, sicher.«
    Aber die Türklingel blieb stumm. Als Deborah ihn fragte, ob er einen Umweg machen wollte, hatte er gesagt: »Lass uns nicht zu weit fahren. Es steht nicht dafür.«
    Kath lebte allein in einem Haus an einem kleinen See. Der Mann, mit dem sie lange Zeit zusammengelebt hatte und mit dem sie das Haus gebaut hatte, war tot. Aber sie hatte viele Freunde, sagte Noelle. Es ging ihr gut.
    Sonje hatte zu Anfang des Gesprächs Kath erwähnt, und ihm hatte sich warm und bedrohlich vermittelt, dass die beiden Frauen immer noch miteinander in Verbindung standen. Er war sich der Gefahr bewusst, etwas zu hören, was er nicht wissen wollte, hegte aber zugleich die törichte Hoffnung, Sonje werde berichten, wie gut er aussah (etwas, wovon er überzeugt war, denn er hatte einigermaßen sein Gewicht gehalten und sich unten im Südwesten Sonnenbräune geholt), und wie zufriedenstellend er verheiratet war. Noelle hätte auch etwas Derartiges sagen können, aber irgendwie hatte Sonjes Zeugnis mehr Gewicht als das von Noelle. Er wartete darauf, dass Sonje wieder auf Kath zu sprechen kam.
    Aber diesen Kurs schlug Sonje nicht ein. Stattdessen drehte sich alles nur um Cottar und Schwachsinn und Jakarta.
     
    Die Störung war jetzt draußen – nicht in ihm, sondern draußen vor den Fenstern, wo der Wind, der die ganze Zeit über die Sträucher bewegt hatte, stärker geworden war und heftig an ihnen zerrte. Und diese Sträucher gehörten nicht zu den Sorten, die ihre langen, dünnen Zweige in solchem Wind einfach flattern ließen. Ihre Zweige waren dafür zu fest, ihre Blätter zu schwer, sodass jeder Strauch bis in die Wurzeln geschüttelt wurde. Sonnenlicht glitzerte auf dem öligen Laub. Denn die Sonne schien immer noch, Wolken waren nicht mit dem Wind gekommen, er brachte keinen Regen.
    »Noch ein Glas?«, fragte Sonje. »Nicht so viel Gin?«
    Nein. Nach der Tablette durfte er das nicht.
    Alles war in Eile. Außer wenn alles quälend langsam war. Wenn sie fuhren, wartete er, wartete immer nur darauf, dass Deborah die nächste Stadt erreichte. Und was dann? Nichts. Aber hin und wieder kam ein Moment, da schien es, als habe einem alles etwas zu sagen. Die rüttelnden Sträucher, das gleißende Licht. Alles in einem Aufblitzen, in einem Ansturm, wenn man sich nicht konzentrieren konnte. Gerade wenn man Bilanz ziehen wollte, bot sich einem solch ein rasender, wirrer Anblick, wie aus einer Achterbahn. Also kam man auf eine falsche Idee, gewiss eine falsche Idee. Dass ein Toter am Leben und in Jakarta sein könnte.
    Aber wenn man wusste, dass jemand am Leben war, wenn man bis vors Haus fahren konnte, ließ man die Gelegenheit vorübergehen.
    Was stand nicht dafür? Zu sehen, dass sie ihm fremd geworden war, so fremd, dass er nicht glauben konnte, je mit ihr verheiratet gewesen zu sein, oder zu sehen, dass sie ihm niemals fremd werden konnte und ihm dennoch unerklärlich fernstand?
    »Sie sind auf und davon«,

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