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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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sagte er. »Alle beide.«
    Sonje ließ die Papiere auf ihrem Schoß zu Boden gleiten, wo sie sich zu den anderen gesellten.
    »Cottar und Kath«, sagte er.
    »Das passiert fast jeden Tag«, sagte sie. »Fast jeden Tag zu dieser Jahreszeit, dieser Wind am späten Nachmittag.«
    Die Münzenflecke auf ihrem Gesicht warfen das Licht zurück, wie Signale in einem Spiegel.
    »Deine Frau ist nun schon lange fort«, sagte sie. »Es ist absurd, aber junge Leute sind mir inzwischen unwichtig. Wie wenn sie von der Erde verschwinden könnten, ohne dass es etwas ausmachte.«
    »Ganz im Gegenteil«, sagte Kent. »Von uns redest du. Du redest von uns.«
    Durch die Tablette ziehen seine Gedanken sich in die Länge, werden hauchfein und leuchten auf wie Kondensstreifen. Er folgt einem Gedanken, der damit zu tun hat, hierzubleiben und Sonje von Jakarta reden zu hören, während der Wind den Sand von den Dünen weht.
    Ein Gedanke, der damit zu tun hat, nicht weiter zu müssen, nur noch nach Hause.

Cortes Island
    Kleine Braut. Ich war zwanzig Jahre alt, ein Meter siebzig groß und wog zwischen einundsechzig und vierundsechzig Kilo, aber manche – so die Frau von Chess’ Chef und die ältere Sekretärin in seinem Büro und Mrs. Gorrie über uns – nannten mich die kleine Braut. Oder auch unsere kleine Braut. Wir beide, Chess und ich, machten uns darüber lustig, aber wenn andere dabei waren, setzte er ein liebevolles, zärtliches Gesicht auf. Und ich ein verlegenes Lächeln – verschämt, fügsam.
    Wir wohnten in einem Keller in Vancouver. Das Haus gehörte nicht den Gorries, wie ich anfangs gedacht hatte, sondern Mrs. Gorries Sohn Ray. Er kam öfter vorbei, um etwas zu reparieren. Er betrat das Haus durch die Kellertür, wie Chess und ich. Er war ein dünner, schmalschultriger Mann, etwa Mitte dreißig, hatte immer einen Werkzeugkasten dabei und trug eine Arbeitermütze. Er hatte einen krummen Rücken, was vielleicht daher rührte, dass er sich oft vorbeugen musste, wenn er Rohre reinigte und Leitungen verlegte oder tischlerte. Sein Gesicht war wächsern, und er hustete viel. Jeder Huster war eine unaufdringliche, eigenständige Verlautbarung, die seine Anwesenheit im Keller für notwendig erklärte. Er entschuldigte sich nicht dafür, dass er da war, aber er ging auch nicht umher, als gehörte ihm alles. Ich sprach nur mit ihm, wenn er an die Tür klopfte, um mir zu sagen, dass er für kurze Zeit das Wasser oder den Strom abstellte. Die Miete zahlten wir Mrs. Gorrie jeden Monat in bar. Ich weiß nicht, ob sie alles an ihn weitergab oder etwas davon behielt, um ihre Haushaltskasse aufzubessern. Denn sie und Mr. Gorrie lebten – so erzählte sie mir – nur von Mr. Gorries Rente. Sie hatte keine. Ich bin ja noch lange nicht alt genug, sagte sie.
    Mrs. Gorrie rief immer die Treppe herunter, um zu fragen, wie es Ray ging und ob er eine Tasse Tee wollte. Er sagte immer, es ginge ihm gut und er hätte keine Zeit. Sie sagte, dass er zu hart arbeitete, genau wie sie selber. Sie versuchte ihm eine ihrer Süßspeisen aufzuschwatzen, Eingemachtes oder Kekse oder Lebkuchen – dieselben Sachen, die sie mir ständig aufdrängte. Er sagte, nein, er hätte gerade gegessen oder er hätte viel davon zu Hause. Ich lehnte auch standhaft ab, aber beim siebten oder achten Versuch gab ich nach. Es war mir peinlich, ihr immer einen Korb zu geben, angesichts ihrer Enttäuschung. Ich bewunderte, wie Ray es fertigbrachte, immer wieder nein zu sagen. Er sagte nicht einmal: »Nein, Mutter.« Einfach nein.
    Dann versuchte sie ein Gesprächsthema zu finden.
    »Na, und was gibt es bei dir Neues und Aufregendes?«
    Nicht viel. Weiß nicht. Ray war nie grob oder gereizt, aber er gab ihr nie auch nur den kleinen Finger. Seine Gesundheit – gut. Seine Erkältung – gut. Mrs. Cornish und Irene ging es auch immer gut.
    Mrs. Cornish war eine Frau, in deren Haus er wohnte, irgendwo in East Vancouver. Er hatte immer etwas in Mrs. Cornishs Haus zu tun, genau wie in diesem – deshalb musste er nach getaner Arbeit gleich fort. Er half auch bei der Pflege ihrer Tochter Irene, die im Rollstuhl saß. Irene hatte einen Hirnschaden. »Das arme Ding«, sagte Mrs. Gorrie, nachdem Ray ihr berichtet hatte, dass es Irene gut ging. Sie machte ihm nie direkt Vorwürfe wegen der Zeit, die er mit dem behinderten Mädchen verbrachte, der Ausflüge zum Stanley Park oder der abendlichen Spaziergänge zum Eisessen. (Sie wusste davon, weil sie manchmal mit Mrs. Cornish

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