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Die Liebe einer Frau

Die Liebe einer Frau

Titel: Die Liebe einer Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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andere Frau anzutreffen war – nur Betrunkene, Stadtstreicher, arme alte Männer und schlurfende Chinesen. Niemand pöbelte mich an. Ich ging an Lagerhäusern vorbei, an unkrautüberwuchertem Industriegelände, wo nicht einmal Männer zu sehen waren. Oder durch Kitsilano mit seinen hohen Holzhäusern, vollgestopft mit Menschen, die so beengt wohnten wie wir, bis zu dem gepflegten Dunbar-Distrikt mit seinen verputzten Bungalows und gestutzten Bäumen. Und durch Kerrisdale, wo die feineren Bäume auftauchten, Birken auf Rasenflächen, Fachwerk, georgianische Symmetrie, Schneewittchenträume mit nachgeahmten Strohdächern. Oder vielleicht echten Strohdächern, woher sollte ich das wissen?
    In all den Häusern, in denen Menschen wohnten, ging gegen vier Uhr nachmittags das Licht an, die Straßenlaternen gingen an, das Licht in den Oberleitungsbussen, und oft rissen auch die Wolken im Westen über dem Meer auf und gaben den Blick frei auf die roten Lichtstreifen der untergehenden Sonne – und im Park, durch den ich auf dem Heimweg eine Runde machte, glänzte in der feuchten Luft das Laub der winterharten Sträucher vom rosig angehauchten Zwielicht. Menschen, die eingekauft hatten, gingen nach Hause, Menschen, die noch bei der Arbeit waren, dachten ans Nachhausegehen, Menschen, die den ganzen Tag im Haus verbracht hatten, kamen heraus für einen kleinen Spaziergang, der ihr Heim wieder anziehender machte. Ich begegnete Frauen mit Kinderwagen und quengelnden Kleinkindern und dachte nie, dass ich bald in derselben Situation sein würde. Ich begegnete alten Leuten mit ihren Hunden und anderen alten Leuten, die langsam gingen oder in Rollstühlen von ihren Lebenspartnern oder Betreuern geschoben wurden. Ich begegnete Mrs. Gorrie, die Mr. Gorrie schob. Sie trug ein Cape und eine Baskenmütze aus weicher, violetter Wolle (ich wusste inzwischen, dass sie fast alle ihre Kleidungsstücke selbst anfertigte) und viel rosige Schminke. Mr. Gorrie hatte eine tief ins Gesicht gezogene Mütze auf und einen dicken Schal um den Hals. Ihre Begrüßung war schrill und besitzergreifend, seine nicht vorhanden. Er sah nicht aus, als ob ihm die Spazierfahrt Spaß machte. Aber Menschen in Rollstühlen sahen kaum je anders als resigniert aus. Manche sahen beleidigt oder regelrecht böse aus.
    »Ach, als wir Sie neulich im Park gesehen haben«, sagte Mrs. Gorrie, »kamen Sie da etwa von der Arbeitssuche nach Hause?«
    »Nein«, log ich. Mein Instinkt riet mir, sie in allem anzulügen.
    »Dann ist ja gut. Denn ich wollte Ihnen gerade sagen, wenn Sie auf Arbeitssuche gehen, sollten Sie sich ein bisschen zurechtmachen. Aber das wissen Sie ja selbst.«
    Ja, sagte ich.
    »Ich verstehe einfach nicht, wie sich manche Frauen heutzutage auf die Straße wagen. Ich würde nie in flachen Schuhen und ohne Make-up aus dem Haus gehen, und wenn’s nur zum Kaufmann um die Ecke wäre. Und schon gar nicht, wenn ich jemanden darum bitten wollte, mich einzustellen.«
    Sie wusste, dass ich log. Sie wusste, dass ich auf der anderen Seite der Kellertür erstarrte und auf ihr Klopfen nicht öffnete. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie unseren Müll durchwühlt und die vollgekritzelten, zerknüllten Bögen mit meinen wortreichen Misserfolgen gefunden und gelesen hätte. Warum gab sie nicht auf und ließ mich in Ruhe? Sie konnte es nicht. Ich war eine ihr gestellte Aufgabe – vielleicht fielen meine Eigentümlichkeiten, meine Unbeholfenheit unter dieselbe Kategorie wie Mr. Gorries Behinderungen, und was sich nicht beheben ließ, musste ertragen werden.
    Sie kam eines Tages die Treppe herunter, als ich im Hauptkeller war und unsere Wäsche wusch. Ich durfte jeden Dienstag ihre Bottichwaschmaschine, ihre Mangel und ihre Waschwannen benutzen.
    »Na, schon irgendeine Arbeit in Aussicht?«, fragte sie, und ohne zu überlegen antwortete ich, dass mir in der Stadtbücherei gesagt worden wäre, man hätte vielleicht demnächst etwas für mich. Ich dachte, ich könnte ja so tun, als ginge ich dorthin zur Arbeit – dann konnte ich mich jeden Tag an einen der langen Tische setzen und lesen oder mich sogar meinen Schreibversuchen widmen, wie ich es hin und wieder schon getan hatte. Falls Mrs. Gorrie je in die Stadtbücherei kam, war natürlich die Katze aus dem Sack, aber eigentlich konnte sie Mr. Gorrie nicht so weit bergauf schieben. Oder falls sie meine Arbeit je Chess gegenüber erwähnte – was ich auch nicht glaubte. Sie sagte, sie hätte manchmal Angst, ihn zu

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