Die Liebe einer Frau
schlimmen, getrübten Auge senkte sich ein wenig –, und die Bewegungen seines Brustkorbs wurden deutlicher, sodass ich vielleicht für einen Augenblick innehielt, um zu sehen, ob er eingeschlafen war. Und dann machte er ein anderes Geräusch – ein barsches, tadelndes. Als ich mich im Laufe der Zeit an ihn gewöhnte und er sich an mich gewöhnte, wirkte dieses Geräusch auf mich allmählich weniger wie ein Tadel und mehr wie eine beruhigende Versicherung. Und sie bezog sich nicht nur darauf, dass er nicht schlief, sondern auch darauf, dass er in diesem Augenblick nicht starb.
Der Gedanke, er könne vor meinen Augen sterben, war anfangs schrecklich für mich. Und warum sollte er nicht sterben, wenn er bereits halbtot zu sein schien? Mit seinem schlimmen Auge, das aussah wie ein Stein unter dunklem Wasser, und dem Mund, der auf einer Seite aufstand und seine eigenen, schlechten Zähne zeigte (die meisten alten Leute hatten damals falsche Zähne) mit den schwärzlichen Füllungen, die sich unter dem feuchten Zahnschmelz dunkel abhoben. Dass er am Leben und auf der Welt war, kam mir wie ein Irrtum vor, der jeden Augenblick bereinigt werden konnte. Aber dann, wie ich schon sagte, gewöhnte ich mich an ihn. Er war ein stattlicher Mann, mit dem mächtigen Haupt, dem breiten, mühsam atmenden Brustkorb und der kraftlosen rechten Hand, die auf seinem langen Oberschenkel lag und beim Vorlesen immer wieder in mein Blickfeld geriet. Wie ein Relikt war er, ein alter Recke aus barbarischer Zeit. Erik Blutaxt. König Knut.
Meine Kräfte schwinden rasch, sprach der greise Meeresherrscher,
Ferne Länder zu erobern ist mir nimmermehr vergönnt.
So war er. Sein halbzerstörter, ungeschlachter Körper, der die Möbel in Gefahr brachte und die Wände rammte, wenn er sich schwerfällig auf den Weg zum Badezimmer machte. Sein Geruch, nicht widerlich, aber auch nicht herabgemildert zu kindlicher Seife-und-Babypuder-Reinlichkeit – ein Geruch nach fester Kleidung mit ihren Tabakrückständen (obwohl er nicht mehr rauchte) und nach der eingeschlossenen Haut, die ich mir dick und ledrig vorstellte, mit ihren machtvollen Ausscheidungen und ihrer animalischen Wärme. Auch ein leichter, aber anhaltender Geruch nach Urin, der mich bei einer Frau angeekelt hätte, in seinem Fall aber nicht nur verzeihlich zu sein schien, sondern gleichsam ein Ausdruck alter Herrscherwürde war. Wenn ich ins Badezimmer ging, nachdem er dort gewesen war, erinnerte es an die Höhle eines räudigen, aber immer noch gewaltigen Raubtiers.
Chess sagte, ich verschwendete meine Zeit damit, auf Mr. Gorrie aufzupassen. Das Wetter war nicht mehr so trüb, und die Tage wurden länger. Die Geschäfte dekorierten ihre Schaufenster neu und erwachten aus ihrer Winterstarre. Alle dachten jetzt eher an Neueinstellungen. Also müsste ich unterwegs sein und mich ernsthaft nach Arbeit umsehen. Mrs. Gorrie zahlte mir nur vierzig Cent die Stunde.
»Aber ich habe es ihr versprochen«, sagte ich.
Eines Tages erzählte er, er habe sie aus einem Bus aussteigen sehen, und zwar von seinem Büro aus. Und das lag ganz woanders als das St. Paul’s Hospital.
Ich sagte: »Vielleicht hatte sie gerade Pause.«
Chess sagte: »Ich hab sie noch nie draußen bei vollem Tageslicht gesehen. Schreck, lass nach.«
Ich schlug Mr. Gorrie vor, ihn im Rollstuhl spazieren zu fahren, da doch nun besseres Wetter war. Aber er lehnte das mit Geräuschen ab, aus denen ich schloss, dass es ihm unangenehm war, in aller Öffentlichkeit durch die Gegend geschoben zu werden – oder vielleicht, von mir herumkutschiert zu werden, die ich offensichtlich dafür angestellt worden war.
Ich hatte meine Zeitungslesung unterbrochen, um ihn das zu fragen, und als ich fortfahren wollte, machte er eine Geste und ein anderes Geräusch, mit dem er mir mitteilte, dass er nicht mehr zuhören mochte. Ich legte die Zeitung hin. Er deutete mit der Hand zu dem Stapel Sammelalben auf der Ablage des Tisches neben ihm. Er machte weitere Geräusche. Ich kann diese Geräusche nur als Brummen, Schnarren, Räuspern, Bellen und Knurren beschreiben. Aber inzwischen klangen sie für mich fast wie Worte. Ich hörte sie nicht nur als befehlshaberische Feststellungen und Forderungen (»Ich will nicht«, »Hilf mir auf«, »Wie spät ist es«, »Brauche was zu trinken«), sondern als kompliziertere Äußerungen: »Herrgott nochmal, wann ist der Hund endlich still?« oder »Viel heiße Luft« (dies, nachdem ich ihm eine Rede oder einen
Weitere Kostenlose Bücher