Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Zustimmung, die sie bei ihrem Vater erreichte, abhinge. Inzwischen schrieben sie sich weiterhin mit gleicher Glut und gleicher Häufigkeit, doch ohne die Aufregungen von einst, und die Briefe bekamen einen familiären Ton, der schon dem von Eheleuten glich. Nichts störte ihre Traumbilder.
Florentino Arizas Leben hatte sich verändert. Die erwiderte Liebe gab ihm eine Sicherheit und eine Kraft, die er nie zuvor an sich gekannt hatte, und da er auch bei der Arbeit so tüchtig war, erreichte Lothario Thugut mühelos, daß man ihn zu seinem Stellvertreter ernannte. Damals war das Projekt der Schule für Telegraphie und Magnetismus bereits gescheitert, und der Deutsche widmete seine freie Zeit dem einzigen, was ihm wirklich Spaß machte, er ging zum Hafen, spielte Akkordeon und trank Bier mit den Matrosen, und alles endete dann im Stundenhotel. Geraume Zeit verging, bis Florentino Ariza dahinterkam, daß Lothario Thuguts Einfluß in dieser Stätte der Lust darauf zurückzuführen war, daß er inzwischen Eigentümer des Etablissements und zudem Impresario der Vögelinnen vom Hafen geworden war. Er hatte es nach und nach mit seinen Ersparnissen vieler Jahre gekauft, als Inhaber trat statt seiner jedoch ein mageres, schielendes Männlein auf, mit einem Bürstenkopf und so weichherzig, daß allen unbegreiflich war, wie er ein derart guter Geschäftsführer sein konnte. Er war es aber. Das meinte zumindest Florentino Ariza, als der Geschäftsführer ihm, ohne daß er darum gebeten hätte, ein festes Zimmer im Hotel anbot, nicht nur für die Probleme des Unterleibs, falls er sich einmal solche zugestehen wolle, sondern auch um einen ruhigeren Ort für seine Lektüre und seine Liebesbriefe zu haben. Während also die langen Monate bis zur offiziellen Bekanntgabe der Verlobung verstrichen, hielt er sich mehr dort als im Büro oder bei sich zu Hause auf, und es gab Zeiten, in denen Tránsito Ariza ihn nur sah, wenn er kam, um die Wäsche zu wechseln.
Das Lesen wurde ihm zu einem unstillbaren Laster. Seine Mutter kaufte ihm, seitdem sie ihm das Lesen beigebracht hatte, regelmäßig die illustrierten Ausgaben nordischer Autoren, die als Kindermärchen feilgeboten wurden, tatsächlich aber Geschichten enthielten, die für jedes Alter höchst grausam und pervers waren. Florentino Ariza trug sie im Unterricht oder bei Schulveranstaltungen aus dem Gedächtnis vor, doch die Vertrautheit mit ihnen linderte nicht sein Grauen. Im Gegenteil, sie verstärkte es. Als er zur Poesie überwechselte, kam es ihm daher vor, als habe er endlich ruhige Gewässer erreicht. Schon in der Pubertät hatte er - in der Reihenfolge ihres Erscheinens - alle Bände der Biblioteca Populár gelesen, die Tránsito Ariza bei den Buchständen am Portal de los Escribanos kaufte, und alles mögliche von Homer bis zu den unbegabtesten lokalen Dichtern war darunter. Doch er machte da keinen Unterschied: Er las den jeweils neuerschienenen Band wie auf einen Befehl des Schicksals hin, und all die Jahre des Lesens reichten nicht aus, ihn erkennen zu lassen, was von dem vielen Gelesenen gut war und was nicht. Klar war ihm nur, daß er die Poesie der Prosa vorzog, und hier bevorzugte er Liebesgedichte, die er, auch ohne es sich vorzunehmen, von der zweiten Lektüre an auswendig lernte, und zwar mit um so größerer Leichtigkeit, je genauer Versmaß und Reim stimmten und je ergreifender sie waren. Dies war die ursprüngliche Quelle seiner ersten Briefe an Fermina Daza, in denen ganze Abschnitte der spanischen Romantiker unverdaut wiederauftauchten, und sie blieb es, bis das wirkliche Leben ihn dazu zwang, sich mit irdischeren Angelegenheiten als Herzensschmerzen zu befassen. Damals war er schon einen Schritt weitergegangen, er las die Tränenheftchen und noch profanere Prosa seiner Zeit. Bei der Lektüre der lokalen Dichter, deren Werke auf den Plazas und an den Portalen als Broschüren zu zwei Centavos verkauft wurden, hatte er gelernt, mit seiner Mutter zu weinen. Zugleich aber konnte er aus dem Stand die erlesenste Poesie des spanischen Siglo de Oro rezitieren. Generell las er alles, was ihm in die Hände fiel, das ging so weit, daß er, lange nach den harten Jahren seiner ersten Liebe, als er selbst schon nicht mehr jung war, die zwanzig Bände der »Enzyklopädie der Jugend« von der ersten bis zur letzten Seite las, ebenso die gesamte Reihe der Klassikerübersetzungen von Garnier & Brüder und die leichteren Werke von Don Vicente Blasco Ibanez, die in der Sammlung
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