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Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Die Liebe in den Zeiten der Cholera

Titel: Die Liebe in den Zeiten der Cholera Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel García Márquez
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»Prometeo« veröffentlicht wurden.
    Seine Jugendjahre in der Absteige waren jedenfalls nicht nur auf das Lesen und das Abfassen fiebriger Briefe beschränkt, sie weihten ihn auch in die Geheimnisse der lieblosen Liebe ein. Das Leben im Haus begann nach der Mittagszeit, wenn seine Vertrauten, die Vögelinnen, aus den Betten stiegen, wie ihre Mütter sie geboren hatten, so daß Florentino Ariza von der Arbeit in einen mit nackten Nymphen bevölkerten Palast kam. Schreiend unterhielten sie sich über die Geheimnisse der Stadt, die sie von den indiskreten Protagonisten erfahren hatten. Viele der Frauen zeigten in ihrer Nacktheit auch die Spuren der Vergangenheit: Narben von Dolchstößen auf dem Bauch, sternenförmige Einschüsse, Messerkerben aus Eifersucht, Kaiserschnittnähte nach Schlachterart. Einige ließen sich tagsüber ihre kleinen Kinder bringen, unglückselige Früchte des Trotzes oder jugendlicher Unachtsamkeit, und sie zogen ihnen, sobald sie hereinkamen, die Kleider aus, damit sie sich im Paradies der Nacktheit nicht fremd fühlten. Jede kochte für sich, und niemand aß besser als Florentino Ariza, wenn er dazu aufgefordert wurde, denn er suchte sich bei jeder das Beste aus. Es war ein tägliches Fest, das bis zur Dämmerung dauerte, wenn die Nackten singend in die Bäder zogen, sich voneinander Seife, Zahnbürste, Schere ausliehen, sich gegenseitig die Haare schnitten, ihre Kleider vertauschten und sich wie düstere Clowninnen anmalten und dann ausschwärmten, um die ersten Beutestücke der Nacht zu erjagen. Von da an wurde das Leben im Haus unpersönlich, entmenschlicht, und nur wer zahlte, konnte daran teilhaben.
    Es gab keinen Ort, an dem sich Florentino Ariza, seit er Fermina Daza kennengelernt hatte, wohler gefühlt hätte, war es doch der einzige, wo er sich nicht allein fühlte. Mehr noch: Es war schließlich der einzige Ort, wo er das Gefühl hatte, mit ihr zusammen zu sein. Aus den gleichen Gründen vielleicht lebte dort eine ältere, elegante Frau mit einem schönen silbernen Kopf, die am natürlichen Leben der Nackten nicht teilnahm und von diesen mit heiligem Respekt behandelt wurde. Ein zu früher Freund hatte sie, als sie sehr jung war, dort hingebracht und sie dann, nachdem er sie eine Zeitlang genossen hatte, ihrem Schicksal überlassen. Trotz dieses Makels war es ihr gelungen, eine gute Partie zu machen. Als sie, alt geworden, allein zurückblieb, machten sich zwei Söhne und drei Töchter das Vergnügen streitig, sie bei sich aufzunehmen, doch ihr fiel zum Leben kein würdigerer Ort ein, als jenes Hotel der sanften Söldnerinnen. Ihr festes Zimmer war ihr einziges Zuhause, und das verband sie mit Florentino Ariza, von dem sie behauptete, daß er einst als weiser Mann in aller Welt bekannt sein werde dank seiner Fähigkeit, noch im Paradies der Geilheit seine Seele durch Lektüre zu bereichern. Florentino Ariza war ihr bald so zugetan, daß er ihr bei den Einkäufen auf dem Markt half und zuweilen ganze Nachmittage im Gespräch mit ihr verbrachte. Er hielt sie für eine in den Dingen der Liebe weise Frau, hatte sie ihm doch manches Licht über seine eigene Liebe aufgesteckt, ohne daß er ihr sein Geheimnis hätte entdecken müssen. War er, bevor er die Liebe zu Fermina Daza erfahren hatte, schon nicht den vielen Versuchungen in seiner Reichweite erlegen, konnte das nun erst recht nicht geschehen, da sie seine Verlobte war. So lebte Florentino Ariza mit den Mädchen zusammen, teilte ihre Freuden und ihr Elend, doch weder ihm noch ihnen kam es in den Sinn, einen Schritt weiter zu gehen. Ein unvorhergesehener Vorfall stellte seine Unbeugsamkeit unter Beweis: Eines Tages um sechs Uhr abends, als die Mädchen sich ankleideten, um die Kunden der Nacht zu empfangen, trat die Reinmachefrau für das Stockwerk in sein Zimmer: eine noch junge Frau, doch früh gealtert, verhärmt und im Glanz der Nackten wie eine Büßerin gekleidet. Er sah sie täglich, ohne sich gesehen zu fühlen: Sie ging mit einem Besen und einem Abfalleimer durch die Zimmer und hob mit einem Extratuch die gebrauchten Präservative vom Boden auf. Sie kam in die Kammer, in der Florentino Ariza wie immer las, und fegte wie immer so unauffällig wie möglich, um ihn nicht zu stören. Plötzlich kam sie nah an sein Bett heran, und er spürte die laue, weiche Hand mitten auf seinem Unterleib, spürte, wie sie ihn suchte, spürte, wie sie ihn fand, spürte, wie sie ihm die Hose aufknöpfte, während ihr Atem das Zimmer anfüllte. Er

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