Die Liebe in den Zeiten der Cholera
gab vor zu lesen, bis er nicht mehr konnte und den Körper wegdrehen mußte. Sie erschrak, denn man hatte sie gewarnt, bevor sie als Putzfrau eingestellt worden war, sie solle nicht versuchen, mit den Kunden zu schlafen. Den Hinweis hatte sie nicht nötig, denn sie gehörte zu denjenigen, die meinten, Prostitution sei schon, sich mit einem Unbekannten hinzulegen, und nicht erst, für Geld die Beine breit zu machen. Sie hatte zwei Kinder, jedes von einem anderen Mann, keine Zufallsabenteuer, es war ihr nur nicht gelungen, einen zu lieben, der auch nach dem dritten Mal noch zu ihr gekommen wäre. Bis dahin war sie eine Frau ohne drängende Bedürfnisse gewesen, von Natur aus dafür geschaffen, zu warten, ohne zu verzweifeln. Doch das Leben in jenem Haus war stärker als ihre Tugenden. Sie kam um sechs Uhr abends zur Arbeit, ging dann die ganze Nacht über von Zimmer zu Zimmer, fegte sie mit vier Besenstrichen aus, sammelte die Präservative auf, wechselte die Laken. Kaum vorstellbar, was die Männer alles nach der Liebe liegenließen. Erbrochenes und Tränen blieben zurück, was ihr verständlich schien, aber auch manches intime Rätsel: Blutlachen, Salbenpflaster mit Exkrementen, Glasaugen, Golduhren, falsche Zähne, Medaillons mit goldenen Locken, Liebesbriefe, Geschäftsbriefe, Beileidsbriefe: Briefe aller Art. Einige Männer kamen wieder, um die verlorenen Gegenstände abzuholen, das meiste aber blieb dort. Lothario Thugut schloß alles weg und glaubte, daß dieser in Ungnade gefallene Palast mit den Tausenden von vergessenen persönlichen Dingen früher oder später ein Museum der Liebe werden würde.
Die Arbeit war hart und schlecht bezahlt, doch sie erledigte sie gewissenhaft. Was sie nicht ertragen konnte, das waren die Schluchzer, das Ächzen, das Quietschen der Bettfedern, all das lagerte sich mit soviel Glut und Schmerz in ihrem Blut ab, daß sie im Morgengrauen das quälende Verlangen hatte, mit dem erstbesten Bettler zu schlafen, dem sie auf der Straße begegnete, oder mit einem versprengten Betrunkenen, der ihr ohne irgendwelche Erwartungen oder Fragen zu Gefallen war. Das Auftauchen Florentino Arizas, eines unbeweibten Mannes, jung und rein, war für sie ein Geschenk des Himmels, denn vom ersten Augenblick war ihr klar, daß er wie sie liebesbedürftig war. Doch er blieb unansprechbar für ihr Verlangen. Er bewahrte seine Unschuld für Fermina Daza, und es gab keinen Grund und keine Kraft in dieser Welt, die ihn von seinem Vorsatz hätten abbringen können. So sah vier Monate vor dem vorgesehenen Datum für die offizielle Verlobung sein Leben aus, als Lorenzo Daza um sieben Uhr früh im Telegraphenamt erschien und nach ihm fragte. Da Florentino Ariza noch nicht gekommen war, setzte er sich auf die Bank, steckte sich den schweren, von einem edlen Opal gekrönten Goldring von einem Finger auf den anderen und wartete bis zehn nach acht, als er in dem Eintretenden sogleich den Telegraphenboten wiedererkannte und ihn am Arm packte.
»Kommen Sie, junger Mann«, sagte er. »Sie und ich, wir müssen etwas bereden, fünf Minuten, von Mann zu Mann.«
Florentino Ariza, grün wie eine Leiche, ließ sich mitziehen. Er war auf dieses Treffen nicht vorbereitet, denn Fermina Daza hatte weder Mittel noch Wege gefunden, ihn zu warnen. Tatsache war, daß sich am vergangenen Sonnabend die Schwester Franca de la Luz, Oberin in der Schule Presentación de la Santísima Vírgen, heimlich wie eine Schlange in eine Unterrichtsstunde - Einführung in die Kosmogonie -geschlichen hatte und, als sie den Schülerinnen über die Schultern spähte, feststellen mußte, daß Fermina Daza, die vorgab, sich Notizen ins Heft zu machen, in Wirklichkeit einen Liebesbrief schrieb. Das Vergehen war nach der Schulordnung ein Grund für den Ausschluß. Lorenzo Daza, der dringend ins Rektorat gerufen worden war, entdeckte das Leck, durch das sein eisernes Regiment dahinschmolz. Fermina Daza gab mit der ihr angeborenen Geradheit die Schuld den Brief betreffend zu, weigerte sich aber, die Identität des heimlichen Verlobten preiszugeben, auch vor dem Schulgericht, das daraufhin das Ausschlußurteil bestätigte. Der Vater nahm sich dann ihr Schlafzimmer vor, das bis dahin ein unantastbares Heiligtum gewesen war, durchsuchte es und fand im doppelten Boden eines Koffers die Päckchen eines dreijährigen Briefwechsels, Briefe, die mit so viel Liebe versteckt wie geschrieben worden waren. Die Unterschrift war eindeutig, doch Lorenzo Daza wollte damals
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