Die Liebe in den Zeiten der Cholera
Bullauge hinüber, in der Hoffnung, Florentino Ariza inmitten des Hafengetümmels zu entdecken, sah aber statt dessen die Zollschuppen, umstanden von Palmen, die von den ersten Sonnenstrahlen vergoldet wurden, und die fauligen Planken der Mole von Riohacha, von wo der Schoner in der vergangenen Nacht ausgelaufen war.
Der Rest des Tages glich einer Halluzination. Sie befand sich im selben Haus, in dem sie bis gestern gewohnt hatte, empfing dieselben Besucher, die sie verabschiedet hatten, führte die gleichen Unterhaltungen, und der Eindruck verstörte sie, ein bereits gelebtes Stück Leben noch einmal zu leben. Es war eine so getreue Wiederholung, daß Fermina Daza beim Gedanken zitterte, auch die Fahrt auf dem Schoner, deren bloße Erinnerung sie in Schrecken versetzte, könne sich wiederholen. Doch die einzige Möglichkeit, auf einem anderen Weg nach Hause zu gelangen, war ein zweiwöchiger Mauleselritt über die Grate der Sierra, und zwar unter weit gefährlicheren Bedingungen als beim ersten Mal, da ein in der Andenprovinz Cauca neu ausgebrochener Bürgerkrieg sich über die karibischen Provinzen ausbreitete. Also wurde sie um acht Uhr abends von demselben Zug lärmender Verwandten wieder zum Hafen geleitet, mit den gleichen Abschiedstränen bedacht und den gleichen allerletzten Geschenkpäckchen, die dann in den Kabinen keinen Platz fanden. Als der Schoner in See stach, verabschiedeten ihn die Männer der Familie mit einer Salve in die Luft, und an Deck erwiderte Lorenzo Daza den Gruß mit den fünf Schüssen seines Revolvers. Die Seelenangst von Fermina Daza verflog rasch, denn der Wind war die ganze Nacht über günstig, und das Meer verströmte einen Duft von Blumen, der sie auch ohne Sicherheitsriemen gut schlafen ließ. Sie träumte, daß sie Florentino Ariza wiedersah und daß dieser sich das Gesicht, das sie kannte, abnahm, weil es in Wirklichkeit eine Maske war, die aber, wie sich herausstellte, mit dem wirklichen Gesicht identisch war. Sie stand sehr früh auf, da ihr das Rätsel des Traumes keine Ruhe ließ, und fand ihren Vater in der Kapitänsmesse, wo er schwarzen Kaffee mit Brandy trank. Sein eines Auge schielte wegen des Alkohols, aber er zeigte keinerlei Anzeichen von Unruhe vor der Rückkehr. Eben fuhren sie in den Hafen ein. Durch das Labyrinth der vor Anker liegenden Segelschiffe glitt der Schoner still ins Hafenbecken des öffentlichen Marktes, dessen Gestank schon mehrere Meilen zuvor auf See zu ihnen gedrungen war. Das Morgengrauen war von einem sanften Nieselregen getränkt, der sich bald zu einem ordentlichen Platzregen auswuchs. Auf dem Balkon des Telegraphenamtes postiert, hatte Florentino Ariza den Schoner gesichtet, als dieser mit vom Regen matten Segeln die Bucht von Las Animas durchquerte, um dann vor dem Marktkai Anker zu werfen. Am Tag zuvor hatte er bis elf Uhr vormittags gewartet, als er zufällig durch ein Telegramm von der Verspätung des Schoners wegen widriger Winde erfuhr, und so hatte er an diesem Tag seit vier Uhr früh erneut gewartet. Er wartete immer noch, ohne den Blick von den Schaluppen zu lassen, in denen die wenigen Passagiere, die trotz des Unwetters von Bord gehen wollten, an Land gebracht wurden. Die meisten mußten auf halbem Wege die auf Grund gelaufene Schaluppe verlassen und dann im Schlamm bis zum Uferdamm waten. Um acht Uhr, nachdem Fermina Daza vergeblich darauf gewartet hatte, daß der Regen aufhörte, vertraute sie sich einem schwarzen Lastenträger an, der, bis zur Taille im Wasser stehend, sie von Bord des Schoners hob und auf seinen Armen bis zum Ufer trug. Sie war so durchweicht, daß Florentino Ariza sie nicht erkannte.
Ihr war selbst nicht bewußt gewesen, wie viel reifer sie im Laufe der Reise geworden war, bis sie das lange verschlossene Haus betrat und sogleich die heroische Aufgabe in Angriff nahm, es wieder bewohnbar zu machen. Die schwarze Dienstmagd Gala Placidia half ihr dabei, sie war, sobald sie von ihrer Rückkehr erfahren hatte, aus dem alten Sklavenquartier wieder zu ihnen gekommen. Fermina Daza war nicht mehr die vom Vater verwöhnte und zugleich tyrannisierte einzige Tochter, sie war nun die Herrin über ein Reich von Staub und Spinnweben, das nur mit der Kraft einer unbesiegbaren Liebe zurückerobert werden konnte. Sie verzagte nicht, fühlte sie sich doch wie bei einer Levitation beflügelt, die Welt aus den Angeln zu heben. Noch in der Nacht der Heimkehr, als sie am Küchentisch Schokolade tranken und Quarkgebäck aßen,
Weitere Kostenlose Bücher