Die Liebe in Grenzen
gesunden Abstand aufrecht, denn nur so konnte ich mich rasch wieder davonmachen, bevor es wirklich wehtat. Was ich » gesunde Distanz « nannte, bezeichnete Manu zwar als » kranke Gefühlsarmut « , aber wer von uns beiden mehr Anlässe zum Heulen hatte, das war definitiv sie.
Seiâs drum, Carmen würde mich sowieso nicht nehmen. Keine Chance. Um es ihr leichter zu machen, sagte ich: » Dass ich nicht gerade für die Arbeit im psychiatrischen Bereich qualifiziert bin, weià ich selbst, aber ich könnte ⦠«
» Wir sind kein psychiatrischer Bereich « , fiel sie mir ins Wort, » wir sind so ziemlich das genaue Gegenteil. « Sie kniff leicht die Augen zusammen, als nehme sie Maà an mir. » Du hast nicht die geringste Ahnung von unserer Arbeit, stimmtâs? «
» Nicht viel mehr als das, was in der Anzeige stand « , gab ich zu, » aber um mehr zu erfahren, bin ich ja jetzt hier. «
» Wenn ich es mit dir versuchen würde, wäre das nicht gerade eine Entscheidung aus dem Lehrbuch für Personalbeschaffung. Andererseits ist Konrad nicht blöd. Er ist gröÃenwahnsinnig und anmaÃend, aber alles andere als blöd. « Carmen seufzte. » Komm, gehen wir ein bisschen herum, dann kannst du sehen, was wir hier so veranstalten, und unterwegs reden wir weiter. «
Ich sprang auf, lieà meinen Rucksack stehen und folgte ihr.
Sie hatte die Tür schon geöffnet, als ich fragte: » Was macht Konrad eigentlich in der Goldbachmühle? «
Carmen sah mich überrascht an. » Wie bitte? «
» Er ist doch kein gewöhnlicher Patient, oder? «
Sie blies hörbar Luft durch die Nase, verschränkte die Arme vor der Brust, kratzte sich dann im Nacken und sagte: » Von all unseren Spezialfällen ist Konrad der speziellste. Er hat hier einen Sonderstatus, aber es würde den gesamten Rest des Nachmittags kosten, wenn ich dir das jetzt im Detail erklären würde. Nur damit eines klar ist: Wir sind weder eine Klinik noch ein Heim, sondern eine Lebensgemeinschaft. Patienten oder gar Insassen gibt es hier nicht. Nur Mitglieder einer Gemeinschaft, von denen die einen Betreuer sind und die anderen mal mehr, mal weniger Betreuung benötigen. Bewusst vermeiden wir jegliche psychiatrische Terminologie, damit die Menschen nicht schon in unseren Köpfen mit Etiketten versehen werden. Diagnosen können ernsthaft krank machen, aber wenigstens davon wirst du ja schon etwas gehört haben. Nicht einmal die Klinikakten, die unsere Leute mitbringen, schaue ich mir an, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt. Genau die sind es ja, die sie bei uns hinter sich lassen sollen. In der Therapie wie im alltäglichen Miteinander entscheidet jeder selbst, was er von sich erzählen will. «
Sie ging jetzt einige Schritte den Flur entlang, während ich noch darüber nachsann, dass ich kaum die Hälfte des Gesagten verstanden hatte. Plötzlich stoppte sie so abrupt, dass ich fast in sie reingerannt wäre, und riss eine Tür rechts von uns auf: » Das ist ein Aufenthaltsraum, wo man abends auch ⦠Ey! Raus hier! Sofort! «
Ich schaute über ihre Schulter und sah gerade noch, wie zwei Menschen erschrocken auseinanderfuhren, die auf einer zerschlissenen alten Couch gelegen hatten.
» Ein für alle Mal â Sex ist nur auf dem eigenen Zimmer gestattet! «
Zwei halbnackte Gestalten, Jeans und Pullover an sich gedrückt, huschten an uns vorbei, rannten polternd die Treppe zum ersten Stock hoch. Carmen schloss grinsend die Tür und sagte: » Halb so wild. Jedes der Mädchen ist über sechzehn und bekommt von mir die Pille verabreicht. Ausnahmslos! «
Ich fragte mich, ob sie das denn so ohne Weiteres anordnen durfte, verwarf aber die Idee, mich nach der RechtmäÃigkeit dieser Zwangsmedikation zu erkundigen. Carmen sah nicht wie jemand aus, der solche Fragen diskutieren wollte. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fügte sie hinzu: » Man kann über diese Verfahrensweise geteilter Meinung sein, aber anders ist es bei uns nicht machbar. Eine Schwangerschaft wäre für jedes der Mädchen und auch für die verantwortlichen Jungs eine Katastrophe. «
Sie schien keine Erwiderung zu erwarten, also schwieg ich. Carmen ging weiter, öffnete die nächste Tür und führte mich in den Speiseraum, der einen ähnlich schmuddeligen Charme wie der Aufenthaltsraum verströmte und
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