Die Liebe ist ein Daemon
so.«
Er greift nach einer ziemlich großen und erschreckend scharfen Glasscherbe.
Ich sehe das Glas in seiner Hand aufblitzen.
»Nein!«
Ich schreie panisch los, versuche, mich zu befreien, ich winde mich wie ein Tier, das in eine Falle geraten ist. Er kommt mit der Scherbe ganz nah an meinen Arm. Meine Tränen tropfen auf den Fußboden. Die scharfe Glaskante ist einen Zentimeter von meiner Haut entfernt. Eine Menge Bilder schießen mir durch den Kopf.
Vor allem Blut.
Die Erinnerung an das erste Mal, als ich mich als Kind mit einem Stück Papier geschnitten habe, blitzt in meinem Kopf auf. Meine Mutter hatte mir ein Pflaster draufgemacht, und vielleicht kam ihr in diesem Moment zum ersten Mal der Verdacht, dass ich kein richtiger Engel bin. In diesem Alter hätte ich schon in der Lage sein müssen, einen kleinen Kratzer selbst zu heilen.
Ich unterdrücke einen weiteren Schrei und schlage aus wie ein Pferd, aber es bleibt zwecklos.
Ich kann immer weniger sehen, es ist, als würde ich durch einen Türspion gucken.
|107| Ich schließe die Augen.
Dann höre ich plötzlich ein lautes Geräusch. Dann noch eins.
Ich öffne die Augen wieder und erkenne schemenhaft eine hohe und schmale Gestalt neben mir. Paride liegt in ein paar Meter Entfernung auf dem Boden, mit einem Nachttisch auf den Knien, der wie durch ein Erdbeben gegen seine Beine gedrückt wurde.
Die Tür steht weit offen, ein aus dem Gang kommender Lichtkegel erhellt das vor Wut und Verachtung verzogene Gesicht von Federico.
Er sieht aus wie ein Engel, denke ich. Er sieht viel mehr aus wie ein Engel als ich, Lorenzo, Elena oder mein Vater.
»Ich bring dich um!«, schreit Paride, der unter Schmerzen wieder aufsteht. »Lass dich nie mehr in der Schule blicken, sonst mach ich dich fertig!«
Federico sieht ihn nicht einmal an.
»Das wird dir noch leidtun, das wirst du mir bezahlen …«
Paride verlässt wutentbrannt das Zimmer und stößt fast mit Ginevra zusammen.
Federico beugt sich über mich und streichelt mit der Hand über meine Stirn und meine Wange.
»Was hat sie?«, fragt Ginevra, die vor Angst richtig zittert.
»Die Schnittwunde ist nicht so tief, aber sie scheint unter Drogen zu stehen.«
»Was?«
»Vicky …«, flüstert er mir ins Ohr. »Versuch, wach zu |108| bleiben, bitte, egal was passiert, du darfst auf keinen Fall einschlafen.«
In seinen schwarzen Augen spiegeln sich alle möglichen Gefühle, vor allem aber große Sorge.
»Ich bitte dich«, fügt er hinzu, während er mir immer noch mit den Fingern durch die Haare fährt.
Ich nicke zum Zeichen, dass ich begriffen habe.
Er dreht sich zu meinen Freunden um. Ginevra ist ganz aufgelöst. Lorenzo hält sie eng an sich gedrückt und versucht, sie zu beruhigen.
»Wir können sie nicht nach Hause bringen, zumindest nicht, bevor es ihr nicht besser geht. Und sie kann nicht alleine bleiben. Wir müssen sie wach halten, bis die Wirkung von dem Zeug, das sie genommen hat, nachlässt … aber wir müssen schnell von hier weg, bevor Paride mit seinen Wachhunden zurückkommt«, sagt Lorenzo.
»Sie kann mit zu mir kommen«, schlägt Ginevra vor.
Lorenzo schüttelt den Kopf. »Wir können nicht riskieren, dass deine Eltern etwas merken.«
»Dann zu dir.«
»Das geht auch nicht«, gibt Lorenzo zurück. »Wenn meine Eltern sie in diesem Zustand sehen, machen sie einen Riesenaufstand.«
»Also, was sollen wir jetzt tun?«
|109| ICH HÖRE SEIN HERZ SCHLAGEN
Schon jetzt kann ich mich an das Fest nur noch so vage wie an einen Traum erinnern. Die Erinnerungen sind schemenhaft und schwer greifbar, ein bisschen wie eine im Dunst liegende Landschaft oder eine von der Sonne ausgebleichte oder vom Regen aufgeweichte Fotografie. Marcos Haus driftet immer weiter weg, zurück bleibt nur noch ein diffuses Leuchten, wie das Licht einer von Weitem flackernden Glühbirne.
Man weiß, dass das Gehirn auf unterschiedliche Art und Weise auf Drogen reagiert. Manche Stoffe verursachen lebhafte, furchterregende Halluzinationen, die gleichzeitig schön und Angst einflößend, bunt und total verworren sein können.
Ich sehe keine rosa Elefanten und das ist, glaube ich, schon mal positiv. Das Dreckszeug, das sie mir in das Glas gemischt haben, war wohl nicht besonders stark. Dafür habe ich den Eindruck, meinen Körper nicht mehr vollkommen zu beherrschen. Es ist ein komisches Gefühl, so als würde sich meine Seele mühsam an mir festklammern und nur den richtigen Moment abwarten, um
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