Die Liebe ist ein Daemon
die Gesichter ab, aber bleiben immer noch sehr nah zusammen.
»Pass auf, kleiner Engel«, haucht mir der blonde Dämon ins Ohr. »Du hast gerade von deinem Gift getrunken.«
Das silberne Piercing glitzert und fängt einen nicht vorhandenen Lichtstrahl ein.
»Und du hast gerade deinem Gift einen Kuss gegeben.«
»Wenn Gift immer so schmecken würde, würde ich mich am liebsten sofort umbringen.« Er lächelt. Ein Lächeln, das jeden Gedanken auslöscht.
»Sie kommen sicher bald, um uns hier rauszuholen.«
Er nickt. »Tut es dir noch leid, dass du bei dem Projekt mitgemacht hast?«
Wir verkreuzen die Finger ineinander. Der Kontakt mit seiner Haut lässt mein Herz schneller schlagen.
»Wir bleiben einfach hier. Ich will nicht mehr aus diesem Grab steigen«, schlage ich vor.
Denn Herauskommen kann auch Trennung bedeuten.
|234| »Glaub ja nicht, dass ich dich so einfach davonfliegen lasse …«, antwortet er zärtlich.
Wir bleiben einfach so sitzen, in einer Art Trance. Keiner hat mehr das Bedürfnis, sich zu bewegen oder etwas zu sagen. Nachdem wir uns so lange Zeit verfolgt haben und voreinander weggelaufen sind, nachdem wir uns so lange gesucht, uns gehasst und nacheinander gesehnt haben, wollen wir nur noch ganz still hier sitzen bleiben, unsere gegenseitige Nähe spüren und endlich zusammen sein.
Ohne uns zu fragen, ob es richtig oder falsch ist. Jeder Zweifel wird in irgendeine Abstellkammer des Gehirns verbannt. Morgen oder in irgendeinem anderen Moment werden wir darüber nachdenken, ob wir einen Fehler gemacht haben. Aber nicht jetzt. Jetzt existiert nur noch dieser Augenblick.
Wir sind wie zwei Schmetterlinge, die in der Luft flattern. Ihre Wege kreuzen sich, dann entfernen sie sich voneinander und verfolgen sich gleich darauf wieder, nur um sich von Neuem zu trennen. Doch dann lassen sie sich auf dem gleichen, grün leuchtenden Blatt nieder, um in dem Bewusstsein zu sterben, dass der Tag, den sie zum Leben zur Verfügung hatten, langsam zu Ende geht. Genau so bleiben wir sitzen, unbeweglich und unendlich dankbar, und spüren gemeinsam unseren gegenseitigen Atem.
Plötzlich verändert sich etwas, eine ängstliche, nervöse Stimme durchbricht die Stille und zerstört unsere intime Nähe. »O mein Gott, seid ihr hier?«, ruft leicht panisch unsere Lehrerin.
|235| Der Traum zerplatzt wie eine Seifenblase.
»Versprich mir, dass sich nichts ändert, wenn wir draußen sind«, sagt er und fängt mich mit diesem verflucht dunklen Blick ein, der Sanftheit und Härte wie zwei Schattierungen einer einzigen Farbe vereint.
»Aber dann musst du mir das auch versprechen«, gebe ich zurück.
|236| AN EINEM EISIGEN WINTERTAG
Wir gehen gemeinsam zu dem kleinen Parkplatz zurück. Nach und nach zerstreuen sich unsere Mitschüler in alle Richtungen. Nur die beiden Lehrer sind noch da. Unser Kunstlehrer schleppt sich mühsam zu seinem Auto. Er sieht echt fertig aus. Kein Wunder, er hat ja auch alles gegeben, um einen schmalen Durchgang zu schaffen, damit wir endlich aus der Höhle rauskommen können. Ich winke ihm dankbar zu, aber ich glaube, er sieht mich gar nicht mehr.
Ich bleibe vor meinem kleinen schwarzen Moped stehen. Ich finde, es sieht ein bisschen aus wie Calimero, die Zeichentrickfigur, dieses kleine schwarze Küken. Der Eindruck wird noch verstärkt, wenn ich meinen weißen Sturzhelm aufsetze, der an die Eierschale erinnert, die Calimero ständig auf dem Kopf trägt.
»Willst du wirklich alleine fahren? Wenn du magst, begleite ich dich. Wir können deinen Roller nehmen und ich hole meine Maschine einfach morgen wieder hier ab«, bietet Federico mir an.
»Bist du sicher?«
»Na klar, das ist kein Problem.«
|237| »Ja, dann gerne. Danke.«
Er lächelt: »Wofür denn? Ich hol nur noch schnell meinen Helm.«
Wir gehen zu seinem Motorrad. Wie ein wildes, metallisch glänzendes Tier steht es dösend in einer Ecke.
Ich schaue es bewundernd an, fahre mit den Fingerspitzen über die schimmernde Oberfläche und bin von seinem Glanz ganz verzaubert. Es ist eine kompakte, aber nicht zu protzige Maschine. »Superschön«, kommentiere ich.
»Das war der ganze Stolz meines Vaters«, sagt er. Seine Eltern hat er bislang noch nie erwähnt, aber nach all dem, was heute passiert ist, ist es vielleicht jetzt nicht der Moment, das Thema zu vertiefen.
Er setzt seinen Helm auf.
Es ist ein wuchtiger, Respekt einflößender Integralhelm. Ich verwünsche leise meine halbe Eierschale.
Wir kehren zu meinem Roller
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