Die Liebe ist ein Daemon
bis zur kompletten Finsternis wird es noch eine Weile dauern.
Ich gehe hinein.
Er ist ganz bestimmt im Garten. Ich mache ein paar Schritte und dann sehe ich, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte. Mit den Stöpseln seines iPods in den Ohren sitzt er unter der Trauerweide und hört Musik. Die Zweige bewegen sich im Abendwind, so wie flatternde Vorhänge vor einem geöffneten Fenster. Er schaut konzentriert in ein Buch.
Ich bleibe einige Sekunden lang stehen und weiß nicht recht, was ich tun soll. Nur noch ein paar Schritte von ihm entfernt befinde ich mich wie auf einer Grenzlinie. Ich könnte mich auch umdrehen und wieder weggehen, er würde es nicht einmal bemerken. Ich könnte, aber ich will nicht.
Er sieht von seinem Buch auf.
In meinem Kopf gibt es ein kleines Déjà-vu. Diese Szene habe ich schon einmal erlebt, aber es ist schon so lange her, dass es mir fast so vorkommt, als hätte ich sie mir nur eingebildet. Mit dem Unterschied, dass nicht September ist und dass wir uns auch nicht mitten auf einer Straße befinden. Ich habe ihn nicht beinahe überfahren und ich stehe auch nicht verdattert da, halte mit einer Hand mein Moped fest und frage mich, wer das ist.
Denn jetzt weiß ich, wer er ist.
Er blickt hoch, schlägt das Buch zu und nimmt mit einer Hand die Kopfhörer aus den Ohren. Er steht aber nicht auf, er sagt kein Wort, er grüßt nicht einmal.
|285| Schwarz – was für eine wunderbare Farbe, fährt es mir durch den Kopf. So schwarz wie die Nacht; ganz egal ob mit oder ohne Sterne, ob mit oder ohne Mond, ich liebe diese tiefschwarzen Nächte. Und so schwarz wie das Meer im Sommer, wenn die Sonne schon untergegangen ist und man noch ein letztes Mal von einem Felsen ins Wasser springt, ohne zu wissen, was sich unter dem schwarzen, sich an der Oberfläche kräuselnden Film verbirgt. Vor allem aber wie seine Augen, die so unergründlich wie schwarzer und kostbarer Onyx sind, so magnetisch und hypnotisierend.
In dem Moment kommt ein kühler Wind auf, der an den Pflanzen rüttelt und uns aus unserer Versunkenheit reißt. Wie gut, denn sonst würden wir wahrscheinlich noch immer wie entrückt hier stehen und uns gegenseitig anstarren. Der Wind zieht sofort weiter, zurück bleibt allein das Zittern der Blätter und der Zweige.
Ich hole den Brief aus der Tasche und winke damit wie mit einer weißen Fahne.
»Du hast gewonnen«, sage ich. »Ich gebe auf.«
Ein kleines, glückliches und dennoch ein wenig vorsichtiges Lächeln huscht über sein Gesicht.
»Dann haust du also nicht mehr ab?«, fragt er und sieht mich dabei skeptisch an.
Ich schüttle den Kopf. »Nee, ich glaub nicht.«
Das Lächeln wird breiter und bringt sein Gesicht zum Leuchten.
Ich atme die kalte stechende Luft ein, ich schlucke sie wie |286| ein Glas mit Eiswasser runter und warte darauf, dass das Blut wieder aus meinem Kopf weicht.
Er lächelt immer noch, während er mit zwei Fingern den kleinen Silberring an seiner rechten Augenbraue dreht.
Ich setze mich neben ihn. Seite an Seite lehnen wir am Stamm der Trauerweide, sitzen einfach nebeneinander da. Unser Atem bildet bei jedem Atemzug eine feuchte kleine Wolke, unsere Hände sind rot vor Kälte. Sein Arm gleitet an meinem Rücken hinunter, er zieht mich an sich und eine Hitzewelle schießt durch meinen ganzen Körper.
Es wird immer dunkler, die Sterne tauchen an den finstersten Stellen im Himmel auf, wie kleine leuchtende Glühwürmchen. Ich stelle mir vor, wie sie den verirrten Seefahrern und den Liebeskranken Trost spenden, wenn der Mond sich verspätet oder einfach keine Lust hat aufzugehen, so wie heute Abend.
Federico hält mir einen Kopfhörer ans Ohr.
Der Wind fährt wieder durch die Zweige der Trauerweide, bringt sie in sanfte Schwingungen und vermischt sich mit Federicos Stimme und den Geräuschen der Nacht, mit seiner Stimme, die flüstert und sich aus einem wunderbaren Lied ein paar Wörter klaut.
»Look at the stars …«
, raunt er, das Gesicht ganz nah an meinen Hals gedrückt.
»Look how they shine for you … and everything you do.«
Der Wind bläst noch ein wenig fester und weitere Sterne tauchen am Himmel auf.
|287| »Das hast du von Chris Martin geklaut. Das gilt nicht!«
»Okay, du hast ja recht«, gibt er zu und sein Lächeln wird breiter. »Vielleicht passt das besser …«
Yellow
von Coldplay verschwindet vom Display und macht einem anderen Titel Platz.
Ich runzle die Stirn, ich weiß einfach nicht, welcher Song das ist, auch wenn
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