Die Liebe ist ein Daemon
Anscheinend kämpfen in ihm auch zwei ganz entgegengesetzte Wünsche.
»Lorenzo?«
»Natürlich nicht, aber … ich kann einfach nicht mitkommen, |303| Vicky. Geh du hin, ich weiß nicht, was ich machen werde, ich muss noch drüber nachdenken.«
»Sie wird eine lange Zeit weg sein«, sage ich und schaue ihn vielsagend an. Lorenzos Engelsgesicht wird noch ein wenig trauriger. In der Zwischenzeit ist unser Lehrer ins Klassenzimmer gekommen. Ich streiche Lorenzo noch kurz über den Rücken und gehe an meinen Platz zurück.
Der Abschied ist sicher für beide nicht leicht … und für ihn ist es vielleicht noch schlimmer als für sie.
Du hast wirklich verdammt großen Mut, Ginevra, das muss man dir lassen. Ganz allein fährst du in ein wildfremdes Land und willst monatelang dortbleiben. Wie sehr musst du dir wünschen, das alles hier hinter dir zu lassen. Aber du wirst mir schrecklich fehlen, ach Scheiße, echt.
In der vierten Stunde werde ich noch zappeliger, ich denke an das, was ich ihr noch alles sagen möchte, an die Worte, mit denen ich mich am besten von ihr verabschieden könnte … die Sätze verwickeln sich in meinem Kopf und am Ende bin ich so verwirrt, dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, was ich ihr überhaupt sagen soll.
Sie fährt weg, meine Ginevra. Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los.
Es klopft an der Tür.
Gleich wird sie aufgehen. Ginevra wird ins Klassenzimmer stürzen und Lorenzo umarmen. Sie wird ihm verzeihen und sie werden wieder zusammenkommen und nie mehr auseinandergehen. Wie in der letzten Szene eines alten Films.
Natürlich ist es nicht Ginevra. Aber es ist die einzige |304| Person, die mir an einem Höllentag wie diesem ein bisschen gute Laune zurückbringen kann.
»Entschuldigung, aber kann Vittoria vielleicht kurz mal rauskommen?«, fragt Federico mit seiner melodischen Stimme.
»Na gut, aber nur ganz kurz«, erlaubt der Lehrer. Er fragt uns gerade über die letzte Stunde aus, aber mich hat er zum Glück schon genug gequält und jetzt sind andere an der Reihe.
Bevor ich die Tür hinter mir schließe, wünsche ich Camilla, die gerade vor der Tafel steht, noch viel Glück. Sie sieht mich mit großen flehenden Augen an, so als ob sie sagen wollte: »Bitte, bitte, nimm mich mit.«
Draußen schaue ich Federico erstaunt an.
»Was ist denn los?«
»Meine Lehrerin will mit dir sprechen.«
»Deine Lehrerin? Und warum?«
Er zuckt mit den Achseln und geht den Flur entlang. Ich folge ihm ziemlich verwirrt.
Der Hausmeister läuft uns über den Weg.
»Gianni, ich glaube, im Klo geht der Wasserhahn schon wieder nicht richtig zu.«
»So ein Mist, schon wieder. Dieser Wasserhahn macht mich noch mal wahnsinnig.«
Der Hausmeister geht schnaufend in Richtung Toiletten und der Flur ist wieder leer.
Wir schlagen den Weg zu Federicos Klassenzimmer ein. Plötzlich packt Federico mich am Arm und zerrt mich in einen Raum.
|305| Er schließt die Tür hinter uns. Dann gibt er mir einen Kuss, der mich nur so dahinschmelzen lässt. Ich mache die Augen zu und lasse mich weiter küssen.
»Aha, das soll also deine Lehrerin sein, die dringend mit mir sprechen wollte?«, frage ich etwas atemlos, als der Kuss zu Ende ist. Ich schaue mich um. Wir sind wieder im Chemielabor, wie an dem Tag, als er mich vor Paride gerettet hat.
Er lacht und küsst mich noch mal.
»Ich geb’s zu, das war glatt gelogen … aber ich hab dich so vermisst. Ich konnte es keine Minute länger ohne dich aushalten.«
Er klemmt mir zärtlich eine Haarsträhne hinters Ohr.
»War das falsch von mir?«
»Nein, ganz im Gegenteil. Du bist der einzige Lichtblick an diesem furchtbaren Tag«, sage ich seufzend. Seine Unterlippe schiebt sich leicht nach vorne und er sieht mich besorgt an.
»Warum denn? Weil Ginevra heute wegfährt, ist es das?«, fragt er nachdenklich.
Eine Träne kullert mir ganz schnell die Wange runter und tropft auf meine Lippen. Ich bemerke sie erst, als ich den salzigen Geschmack im Mund habe.
»Ja, weil … sie wird mir so unheimlich fehlen«, sage ich mit rauer Stimme.
Er reibt mir mit den Fingerspitzen die Träne von den Lippen.
»Ich versteh dich … zumindest glaub ich das.«
Er schaut in meine feuchten roten Augen.
|306| »Wenn du magst, wenn du meinst, dass dir das helfen könnte, kann ich dich auf dem Weg zu ihr begleiten. Ich könnte in der Nähe auf dich warten, so stör ich euch nicht.«
»Vielen Dank, echt, aber ich glaub, es ist besser, wenn ich allein geh. Es
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