Die Liebe ist eine Insel
Fortschritte würden mit Gewalt erkämpft.
»Wie sollen wir denn leben? Aufrecht? Oder gebeugt, auf Knien?«
Odon holt seine Lizenz heraus.
»Soll ich sie zerreißen?«
»Das hat nichts damit zu tun, Papa!«
Sie hat recht. Er wendet sich ab. Er betrachtet das Plakat von Nuit rouge , den Namen Paul Selliès. Wenn sie spielen, erkennen sie ihn als Autor an, geben sie ihm eine Chance, gesehen und gehört zu werden und dadurch nicht länger ein toter Schatten hinter einem Text zu sein.
Es gibt immer eine Vielzahl von Gründen, etwas zu tun oder nicht zu tun.
»Es gibt andere Wege«, sagt er, »andere Möglichkeiten.«
Julie lässt sich nicht beirren.
»Nachgeben ist kein Weg!«
Odon hört ihr nicht zu.
Der Streik erregt kein Aufsehen mehr, sie werden auf andere Weise protestieren müssen.
Julie gibt nicht auf.
»Wir müssen In und Off in ein Boot bringen, aus Avignon eine tote Stadt machen! Das wäre die kulturelle Bewegung des Jahrhunderts!«
Odon wischt ihre Argumente mit einer Handbewegung fort.
Die Bühnenarbeiter sind müde. Die Jungs auch.
Julie gibt nach.
Nach kurzer Diskussion stimmen sie dafür, zu spielen.
M arie hört sie. Sie sitzt am Bühnenrand. Der Saal ist leer. Die Bühnenrequisiten stehen im Gang, ein Kostüm, ein Stuhl, ein großer Stoffparavent.
Die Sitze im Saal sind mit rotem Samt bezogen, der im Licht glänzt.
Es riecht nach Staub, nach Hitze.
»Nicht dieses Polohemd in einem Theater!«, sagt Odon, als er sie sieht.
Ihr Polohemd ist aus Baumwolljersey.
»Es ist grün«, erklärt er, »Grün bringt Unglück in einem Theater.«
Molière ist in einem grünen Kostüm auf der Bühne gestorben. Judas trug eine grüne Tunika. Der Lieferwagen ihres Bruders war ebenfalls grün … All das geht ihr durch den Kopf.
»Nur die Clowns dürfen Grün tragen, aber du bist kein Clown«, sagt Odon.
Marie bleibt auf dem Bühnenrand sitzen. Er sieht sie genauer an. In der Hand hält er das Heft ihres Bruders. Er reicht es ihr.
»Was ist das verbotene Glücksspiel?«, fragt er.
»Eine idiotische Wette«, erwidert sie.
»Und der Schild?«
»Ein Gullydeckel.«
»Und worum geht es?«
»Um nichts.«
Er gibt ihr das Heft zurück und lässt sich auf einen Sitz in der ersten Reihe fallen.
Maries Füße baumeln vor seinen Augen. Sie trägt Turnschuhe, mit offenen Schnürsenkeln.
»Und seine Faszination für die Terrakotta-Soldaten von Xian, woher kam die?«
»Die Bibliothek des Viertels, er war in ein Mädchen verliebt, eine intellektuelle Tussi, die sich wer weiß was einbildete, nur weil sie viel gelesen hatte.«
Er zündet sich eine Zigarette an, bläst den Rauch in die Luft.
»Sei nicht vulgär, das passt nicht zu dir. Wie alt bist du?«, fragt er.
»Fast zwanzig … Und Sie?«
»Nur ein bisschen älter.«
Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Er ist nicht alt, die Zeitspanne, die ihm noch bleibt, ist nur kürzer.
Marie baumelt mit den Beinen, die Absätze schlagen gegen den Vorhang. Dahinter sind Bretter, ein hämmerndes Geräusch.
»Du nervst, Marie.«
»Seien Sie nicht vulgär«, sagt sie.
»Vulgär sein ist etwas anderes.«
»Und was?«
»Vulgär bist du … Dein Haar, die Dinger überall in deinem Gesicht, deine Art zu reden.«
Sie antwortet nicht. Manchmal ist es einfach so, sie geht den Leuten auf die Nerven. Sie beugt sich nach hinten, um zu sehen, was über der Bühne ist, die großen Lampen und die hängenden Kulissenteile. Der Vorhang aus Streifen für Nuit rouge hängt ebenfalls da.
Sie setzt sich wieder in den Schneidersitz.
»Was muss man tun, um gut zu spielen?«, fragt sie.
»Man hebt den Kopf, blickt zum Kronleuchter und spricht deutlich.«
Sie sucht die Decke ab.
»Da ist kein Kronleuchter.«
Er lacht.
»Nein, da ist keiner. Aber früher gab es einen.«
Er zeigt auf einen Haken an der Decke in der Mitte des Saals.
»Aus schönem böhmischem Glas, lauter geschliffene Tränen, sehr schwer … Zu schwer. Er ist mitten in einer Aufführung heruntergekommen, drei alte Männer saßen unter ihm.«
Marie zieht einen Schuh aus, zieht den Fuß an ihren Bauch und massiert die Fußsohle mit den Daumen.
Sie starrt auf den Haken und die Sitze direkt darunter.
»Wo ist er jetzt?«
»Der Kronleuchter? Irgendwo unterm Dach.«
Odon beobachtet sie. Er weiß nicht, ob sie wirklich glaubt, was er ihr da gerade erzählt hat. Es scheint so.
»Er ist nicht von allein heruntergefallen …«, sagt er schließlich. »Wir haben ihn abgenommen, die Befestigung zeigte
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