Die Liebe ist eine Insel
das Geräusch der malmenden Kiefer.
Der Kellner stellt den Salat vor Marie.
Sie sprechen über Nuit rouge .
Odon sagt, keine Philosophie könne die Liebe, die Sehnsucht, die Hoffnung so gut ausdrücken wie diese Tonmenschen.
Yann möchte, dass ein Theateragent ihre Aufführung kauft. Auch wenn er sie zu einem Schleuderpreis verscherbelt, wenigstens würden sie in anderen Städten spielen. Warum nicht in einem anderen Land, São Paulo, Barcelona, New York …
Sie reden darüber. Beginnen zu träumen.
Jeff sagt, wenn ihr in Michigan spielt, komm ich mit.
Chatt’ blickt nicht von seinem Teller auf. Der Gedanke, sich zu verkaufen, gefällt ihm nicht. Dass das Festival ein Markt ist. Dabei ist es einer, ein Markt, um den man nicht herumkommt.
»Eine richtige Messe des lebendigen Spektakels, und wir sind das Vieh …«
Odon erzählt, während irgendeiner Revolution, welche, daran erinnert er sich nicht mehr, hätten die Theater nicht geschlossen. Die Truppen hätten jeden Abend gespielt, während draußen auf den Straßen überall Aufruhr gewesen sei. Sechs Jahre hätte das gedauert.
»Der Beweis, dass man gleichzeitig protestieren und spielen kann.«
»Uns interessiert nicht, was früher war«, sagt Julie.
»Wenn du das so siehst.«
Chatt’ ritzt die Tischdecke mit der Spitze seines Messers, weiße Furchen, die sich eingraben und das Papier zerreißen.
»Im September, als die Proben wieder anfingen, da hättest du solidarisch sein sollen.«
»Was willst du damit sagen?«
Odon weiß es, er hat ihnen Nuit rouge aufgezwungen. In den Jahren davor hatte die Truppe Wetten über die Anzahl der verkauften Karten abgeschlossen, in diesem Jahr trauten sie sich nicht.
»Jetzt ist es jedenfalls zu spät, wir haben angefangen, und wir machen weiter!«, sagt Julie.
Odon spießt mehrere Pommes frites auf seine Gabel.
»Im Leben, in der Liebe, wir denken bei allem kurzfristig. Wenn man Theater machen will, muss man Risiken eingehen.«
»Es ist keine Frage des Risikos …«, sagt Chatt’.
Odon zögert. Er hat recht, es ist eine Frage des Mutes, und Mut beweisen sie, wenn sie spielen.
Am Ende des Tisches entfernt Marie die Schalen von ihren Garnelen.
»Ist Beckett tot?«, fragt sie.
Alle Köpfe drehen sich zu ihr.
Julie antwortet. Sie sagt, er sei schon lange tot.
Marie wischt sich die Hände an der Serviette ab, kramt in ihrem Rucksack, holt ein Foto heraus, ein grüner Lieferwagen mit Rostflecken.
Sie gibt das Foto herum.
»Mein Bruder sagte, Beckett sei ein großer Autor.«
D ie Jungs der Großen Odile spielen im Hof, um die Badewanne herum, ihre braungebrannten Beine schauen aus Baumwollshorts heraus. Sie haben den Wasserschlauch geholt. Die Wanne ist voll, Schüsseln stehen herum.
»Wo ist eure Mutter?«, fragt Jeff.
Sie zucken die Achseln, sie haben keine Ahnung.
Jeff lädt sie zu Baisers an der Place des Châtaignes ein. Sie ziehen die T-Shirts wieder an und laufen zur Bäckerei.
Die Baisers sind groß und weiß. Sie essen sie auf dem Bürgersteig sitzend, auf der Schattenseite gegenüber vom Chien-Fou.
Sie beißen hinein, und das Gebäck platzt, Stücke fliegen herum wie Segel. Sie fangen die Stücke mit den Händen auf. Die Finger kleben, sie bekommen Durst vom Zucker.
Sie sitzen nebeneinander, alle vier, aufgereiht vom Größten bis zum Kleinsten, und am Ende der Reihe Jeff.
D ie Große Odile betritt das Hotel La Mirande. Schüchtern, verlegen, sie traut sich nicht weiterzugehen.
Die Jogar hat sie angerufen. »Ich erwarte dich im Hotel.«
Ohne zu sagen, warum.
Odile ist hastig in ihr schönstes Kleid geschlüpft. Sie hat die Jungs draußen mit dem Wasser spielen lassen, ist gekommen, so schnell sie konnte.
Die Jogar erwartet sie. Sie winkt ihr, ein Lächeln, sie nimmt ihre Hand und führt sie in den Patio.
»Ich wollte dir das zeigen, du sollst es einmal sehen.«
Odile blickt sich um. Sie steht in einem geschlossenen Hof mit Glasdach, Sesseln, Tischen. Ein Raum voller Licht mit Blick auf den Papstpalast durch die Glasöffnung.
Sie gehen durch die Aufenthaltsräume, schauen die Küchen an.
Die Gärten, die Fassade, Blumen, Tische mit weißen Decken unter den Sonnenschirmen. Um diese Tageszeit ist es ruhig im Hotel.
Odile blickt sich um, betrachtet die Vasen, die Sträuße.
»Man hat ja keine Ahnung, was hinter den Mauern ist …«, sagt sie träumerisch.
»Und jetzt zeige ich dir mein Zimmer.«
Sie gehen die Treppe hinauf.
Die Jogar öffnet die Tür.
Odile tritt als Erste ein.
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