Die Liebe ist eine Insel
stellt sich den Caravan in der Hitze vor.
Etwas später ruft sie noch einmal an, ihre Mutter sagt, sie habe im Sessel geschlafen.
Marie weiß nicht, wann sie zurückkommt. Auf der anderen Seite der Leitung hört sie ein Flugzeug vorbeifliegen.
Sie nimmt die Botschaften aus der Gedankenurne. Über dreißig. Sie liest sie nicht.
Sie steckt sie in ihre Tasche.
Sie setzt sich auf die Bank.
Sie zieht ihre Ärmel nach unten, damit Damien die Kratzer auf ihren Armen nicht sieht.
»Was ist das?«, fragt er und deutet auf den Lederbeutel unter ihrem Hemd.
»Mein Bruder«, sagt sie.
Sie erklärt es ihm.
»Ich habe die Asche mit meiner Mutter geteilt …«
Sie erinnert sich, wie ihre Mutter den Löffel in die Asche getaucht hatte. Sie hatte gesagt, es sei ihre Sache, das zu tun, den Staub herausgeholt und ihn in den Lederbeutel gefüllt. Sie hatte geweint. Dadurch war ihre Brille beschlagen, und sie hatte die Gläser putzen müssen. Sie waren zerkratzt, es war sinnlos gewesen, sie zu putzen.
Damien nickt.
Er fragt, ob sie sie noch lange mit sich herumtragen werde.
9 Ernte , 1930.
S ie haben mich alle Mademoiselle Isabelle genannt. Auch Ferré. Wenn er in die Rue de la Croix kam, klingelte er und kam herauf. Wir saßen um den Tisch mit Benedetto, Laurent Terzieff war auch da … Agnès machte Fotos … Agnès Varda.«
Isabelle erzählt.
Marie hört zu. In der Nachmittagshitze vergehen die Stunden langsam.
Isabelle zeigt ihr ein Porträt an der Wand.
»Marceau war ein weißer Gaukler. Du kennst doch den Pantomimen Marceau?! Wo lebst du eigentlich?«
Sie sagt es lachend.
Sie deutet auf ein weißes Gesicht, das aus einem gestreiften Pullover herausschaut. Das Foto trägt eine Widmung: »Schweigen ist die einzig sinnvolle Haltung.« Eine Unterschrift.
Isabelle schiebt Marie zu einem anderen Porträt.
»Das ist Béjart, ein großer Tänzer, ein schöner Mann, nicht wahr? … Und da ist Agnès, sie war zwanzig 1948, immer mit ihrem Fotoapparat, wie du. Das blaue Hemd, das sie auf diesem Foto trägt, hängt im Schrank im Schlafzimmer. Und das ist Ariane Mnouchkine, im Sommer 1969.«
Sie dreht den Amethyst an ihrem Finger.
»Vilar, man nannte ihn den König! Gérard, er war der Prinz. Und Maria, Maria Casarès, sie war unser Licht.«
Isabelle erinnert sich an alle Gesichter. Sie ist ihnen gefühlsmäßig stark verbunden, ihrer Geschichte, ihrer Legende. Sie hätte sich etwas von ihrem Talent gewünscht, um an dieser Magie teilzuhaben. Sie konnte sie nur lieben. Und das hat sie wirklich getan. Intensiv.
Sie dreht sich zu Marie um, nimmt ihr Gesicht in ihre Hände, die so blauen Augen.
»Auch du bist schön, du kannst ein Licht sein, wenn du willst.«
Eigentlich möchte sie noch etwas hinzufügen. Ein Leben ist so kurz. Sie löst sich von ihr.
Sie zieht eine Schallplatte aus einer bunten Hülle und legt sie auf den Plattenteller.
»Er könnte dir alles sagen, was du wissen musst.«
Sie reicht ihr die Hülle. Ferré singt Aragon . Die Texte sind auf der Rückseite abgedruckt.
Isabelle geht zu einem der Fenster. Sie hören ein Chanson, dann ein zweites.
»Er stand hier und beobachtete die Leute auf der Straße. Das beruhigte ihn. Er spielte gern Karten, endlose Partien. 1959 kaufte er ein Schloss in der Bretagne, bei Cancale. Ich bin einmal dort gewesen. Bei Flut war es eine Insel. Später hat er die Toskana vorgezogen.«
Sie setzt sich wieder auf das Sofa. Als er zum letzten Mal hier war, wirkte er bereits alt, er hatte Mühe, die Stufen hinaufzusteigen. Im Jahr darauf erfuhr sie von seinem Tod, während des Festivals.
»Es waren viele da, ein Abend, der Anaïs Nin gewidmet war. Wir weinten. Dann fuhren wir zu seiner Beerdigung, im Cabrio, nach Monaco. Geschlafen haben wir am Strand. Wir hatten Wein gekauft und ließen seine Platten herumgehen. Es war eine phantastische Nacht.«
Isabelle schließt die Augen. Die Stimme singt Gedichte. Erinnerungen steigen hinter ihren geschlossenen Lidern hoch.
Ihre faltige Hand zittert auf der Lehne.
»Mathilde war bei uns, sie nahm den Wagen, verbeulte den Kotflügel, aber sie kam mit Croissants und Thermoskannen voll Kaffee zurück. Wir tranken den Kaffee am Grab, aßen die Croissants und heulten wieder. Das Grab war über und über mit Blumen geschmückt, es war Sommer.«
Tränen trüben ihren Blick.
»Alt werden ist nicht schlimm, wenn man sich erinnert. Erst wenn man vergisst, leidet man …«
Marie legt die Plattenhülle ins Regal zurück.
»Wer ist
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