Die Liebe ist eine Insel
Kopf leben können. Nicht lange, aber ein paar Stunden. Schmetterlinge und Kakerlaken können angeblich sogar einige Tage durchhalten. Sie nimmt den Skarabäus in die Hand. Gelb-goldener Panzer. Auf ihrer Handfläche sinkt er in sich zusammen. Der Mensch überlebt seine Enthauptung nur drei Sekunden.
Sie drückt die Fingernägel zusammen.
Learning by doing , murmelt sie und zwickt den Kopf ab.
Es tritt kein Blut aus. Sie legt den Kopf auf den Beton, den reglosen Körper daneben. Sie wartet. Ein paar Sekunden geschieht nichts, dann beginnen die Beine sich zu bewegen. Der Gang ist anfangs unsicher.
Der Körper geht am Kopf vorbei, läuft weiter, entfernt sich.
Mathilde folgt ihm mit den Augen.
»Das ist eine dumme Grausamkeit«, sagt eine Frau neben ihr.
O don isst im Restaurant de l’Épicerie zu Mittag, ein Tisch im Schatten, immer derselbe, am Fenster. Er braucht nicht zu reservieren, es ist seine Gewohnheit, jeden Tag zur Mittagszeit. Der Wirt kennt ihn.
Portulak wächst in den Töpfen hinter dem Gitter.
Touristen sitzen beim Essen. Andere nehmen gerade Platz. Auf den Tischen stehen Körbe mit Brot.
Odon wechselt ein paar Worte mit dem Kellner, bestellt einen Teller mit Salat, gegrillten Auberginen, Spargelspitzen, Tomaten und Oliven. Dazu Garnelen in einer Schale und Toastscheiben mit Tapanade.
Ein Glas Wein.
Von seinem Platz aus kann er sowohl den Eingang der Kirche als auch die Türen des Chien-Fou sehen.
Er trinkt einen Schluck.
Beginnt zu essen.
Marie erscheint. Sie geht um die Tische herum und kommt auf ihn zu.
Sie lässt sich auf einen Stuhl ihm gegenüber fallen. Legt das Buch auf den Tisch.
Das Grün der Markise, die die Terrasse in ihren Schatten taucht, ist das gleiche wie das Grün der Stühle.
Die Unterhaltungen ringsum gehen weiter, manche in fremden Sprachen.
»Bringt ein toter Autor Unglück?«, fragt sie. »Haben Sie deswegen seinen Namen nicht auf das Buch gedruckt?«
Odon nimmt sein Glas und trinkt einen Schluck Wein.
»Der Name deines Bruders steht überall, auf Nuit rouge , auf den Flyern, auf den Plakaten.«
»Er steht nicht auf Anamorphose !«
Sie redet laut, schreit fast, Leute drehen sich um.
Ihre Stimme ist eine solche Lautstärke nicht gewohnt. Sie hustet.
Odon stellt sein Glas ab. Er nimmt eine Garnele und löst sie aus der Schale.
Sie schaut ihm zu.
»Sie haben kein Recht dazu …«
Er weiß es.
Er sieht sie an, ohne mit der Wimper zu zucken.
Sie senkt den Blick und kratzt mit dem Absatz die braunen Pflastersteine des Platzes. Kümmerliche Grashalme wachsen dazwischen, sie scheinen am Verdursten zu sein.
»Sie haben Pauls Namen auf das Plakat von Nuit rouge gedruckt … Haben Sie das getan, um Ihr Gewissen zu erleichtern?«
»Wenn du so willst.«
Sie nickt.
Er streicht Butter auf ein Stück Brot, träufelt Zitrone darauf. Er nimmt eine weitere Garnele, deutet auf die Schale.
»Iss …«
Der Kellner kommt, fragt, ob alles in Ordnung ist.
»Besser wäre geradezu unanständig«, erwidert Odon.
»Werden Sie Nuit rouge ebenfalls veröffentlichen?«, fragt sie.
»Nein.«
Er veröffentlicht schon lange nichts mehr. Seit Anamorphose . Damals hat er die ersten zehn Exemplare aufbewahrt, als sie aus der Druckerei gekommen sind.
Marie streckt die Hand aus, nimmt eine Zitronenscheibe und leckt die gelbe Säure.
»Wird Nuit rouge in Paris gespielt werden?«
»Ich glaube nicht.«
Sie beißt in das Fruchtfleisch, löst es von der Schale.
Eine Taube pickt mit dem Schnabel zwischen den Pflastersteinen. Graues Gefieder, rundes Auge. Sie hat einen kranken Fuß, eine Art Lepra, die ihre Krallen zerfressen hat, so dass sie hinkt. Marie nimmt eine Garnele am Ende des Fühlers und wirft sie der Taube hin. Innerhalb weniger Sekunden verschlingt der Vogel sie und blickt in Richtung Marie.
»Mathilde hat Glück gehabt«, sagt Marie.
»Das ist lange her.«
»Es war nicht einmal im letzten Jahrhundert!«
Odon reibt mit der Hand das Holz der Schüssel.
»Wir haben uns alle auf irgendeine Weise schuldig gemacht …«
Sie wird blass.
Sie ist nicht imstande zu schreien. Oder zu schlagen. Ihre Wut behält sie für sich. Sie schluckt immer alles hinunter.
Sie stellt das Schicksal über alles, sagt sich, letzten Endes ist es nicht so schlimm, es ist keine wirkliche Wut.
Und sie beerdigt sie.
Beerdigt sie ganz tief.
Das führt dazu, dass ihr Fleisch abstirbt. Die Kratzer fügt sie sich zu, um Flüssigkeit abzusondern.
»Mein Bruder hat Ihnen vertraut«, platzt sie
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