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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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sie gehen auf den Hof, die Bäume.
    Die beiden Bibliothekarinnen sitzen an ihren Schreibtischen. Der alte Mann schläft noch immer.
    Marie reißt an der Seite, ein langsames Heraustrennen, ohne Schere. Das Papier zackt aus.
    Sie reißt es vollständig heraus. Als sie fertig ist, klappt sie das Buch zu und steckt die Illustration in ihre Tasche. Ohne sie zu falten.
    Sie stellt das Buch zurück und geht zum Ausgang. Die Sicherheitsschranken schrillen nicht wegen einer einzelnen Seite. Sie steht wieder draußen, im glühend heißen Licht des Hofs.
    Place Saint-Didier, sie kauft einen Klebestift. Besorgt sich ein Stück dünne Pappe. Kehrt in die Gärten zurück, setzt sich auf eine Bank und klebt die Reproduktion des Gemäldes auf die Pappe.
    Sie entfernt, was übersteht. Ohne Schere, es ist nicht gleichmäßig, sieht eher aus wie eine selbstgemachte Postkarte.
    Sie dreht die Karte um.
    Schreibt.
    »Anamorphose: reversible Verzerrung eines Bildes mit Hilfe eines Spiegels oder eines optischen oder elektronischen Systems. Der merkwürdige Gegenstand im Vordergrund ist eine Anamorphose.«

I n der Nacht wandert sie im T-Shirt und mit bloßen Füßen durch die Wohnung. Der Fußboden ist staubig.
    Sie öffnet eine erste Tür. Dahinter ein Zimmer wie die anderen, mit Matratzen, Laken, Taschen. Die Straßenlaternen beleuchten die Körper.
    Ein Mädchen schläft, eine Hand zwischen den Schenkeln. Ein weißes Laken ist zusammengeknüllt. Andere schlafende Körper.
    Hinter allen Türen ineinander verschlungene Beine, auf den Boden geworfene, zerknitterte Kleidung. Atmen im Schlaf.
    Marie geht hinein, bückt sich, schnüffelt an der Haut, an den feuchten Nacken, Gerüche von Mädchen, Jungen, atmet den Schweiß ihres verklebten Haars.
    Im Flur.
    Zwei Schatten schlüpfen unter die Dusche. Das Rauschen des Wassers. Der feuchte Beschlag hinter dem Plastikvorhang. An der Wand Schimmelflecke. Auf den Fliesen Kleidungsstücke. Ein weißes Höschen und kaltes grelles Neonlicht.
    Marie öffnet eine andere Tür. Ein weißer Bauch, eine Brust, ein Arm quer über einem Gesicht. Sie nähert ihre Hand, der Bauch ist flach, die Haut warm, lebendig. Sie geht von einem Körper zum nächsten.
    Sie findet Schläge, behält sie in der Hand.
    Schläge des Herzens, des Lebens. Sie hört Stöhnen im Schlaf.
    Sie will niemanden wecken.
    Sie berührt Haut, streift sie flüchtig.
    Plötzlich stößt sie einen Schrei aus.
    Zwei weit offene Augen starren sie an. Isabelle ist da, sie sitzt mit dem Rücken an der Wand, in einer weißen Baumwolltunika. Ihre Arme sind nackt.
    Eine alte Frau, auferstanden aus einem Grab, ein Lächeln auf den Lippen, erschreckend wie der Tod.
    Sie scheint zu träumen.

O don dimmt das Licht. Er setzt sich hinten in den Saal. Der Vorhang ist geschlossen. Er zündet sich eine Zigarette an.
    Das Quietschen der Tür veranlasst ihn, den Kopf zu drehen. Ein Schritt auf dem Fußboden. Der Duft eines Parfums.
    »Die Tür war offen …«, sagt sie und legt eine Hand auf seine Schulter.
    Sie setzt sich neben ihn.
    »Das ist das Privileg der Liebenden«, fügt sie hinzu, »zu spüren, wo der andere ist, dorthin zu gehen und ihn zu finden.«
    »Der ehemaligen Liebenden, Jogar …«
    Sie muss lachen. Es gibt keine ehemaligen Liebenden, es gibt nur Menschen, die sich berührt, sich vereint haben, in Verwirrung geraten sind, Menschen, die von dieser Gnade mitgerissen wurden und sich ein absolutes Vertrauen bewahrt haben.
    Sie sagt, dass sie gern durch Städte streife, dass es ihr jedoch nicht gelänge, ganz normal durch diese Stadt zu streifen.
    Er hört sie atmen. Sie trägt ein leichtes, blumiges Parfum.
    Er betrachtet ihr Gesicht. Einen Augenblick lang hat er Lust, sie zu küssen, in diesen halb geöffneten Mund einzudringen.
    »Tausende Männer wären gern an meiner Stelle.«
    Ein kehliges Lachen ertönt. Die Männer lieben die Jogar, begehren sie. Eine Wunschvorstellung.
    Sie lehnt den Kopf zurück.
    »Tausende, ja, und noch viel mehr …«
    Wenn sie nicht spielt, lernt sie. Wenn sie nicht lernt, spielt sie. Nachts träumt sie von den Brettern. Sie sagt, dass sie unglaubliches Glück habe, dass sie nicht anders hätte leben können.
    »Ich habe sehr wenige Liebhaber gehabt, weißt du … Beinahe hätte ich geheiratet … Ich bin vorher gegangen. Es war ein Fehler, ich liebte ihn nicht, aber er liebte mich, er hätte mich beschützen können.«
    Sie macht eine unbekümmerte Handbewegung.
    Beide müssen lachen. Ein wenig.
    Sie blickt ihn an,

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