Die Liebe ist eine Insel
uninteressant, sie klebt sie trotzdem auf. »Meine Lieblingsfarbe? Die Augenfarbe des Mannes, den ich liebe …«
Unter all diesen Gedanken ein Zitat von Oscar Wilde: »Das einzige Mittel, sich von einer Versuchung zu befreien, ist, ihr nachzugeben.«
Marie setzt sich auf die Matratze. Sie denkt nach. Wenn sie ein Haus bauen müsste, würde sie diesen Satz am Frontgiebel einmeißeln.
Sie schreibt auf die Tapete: »Es gibt etwas, das lebt, und gleich daneben etwas anderes, das stirbt.«
Während sie das tut, denkt sie nicht an die Jogar.
Anamorphose ist ein Band, das sie mit ihrem Bruder verbindet. Es bleiben nicht mehr viele solcher Bindungen. Sie hat Angst, dass die letzten zerreißen könnten.
Isabelle sagt, dass die Körper schwach werden, die Gefühle abstumpfen. Marie betrachtet durch das Fenster den allzu blauen Himmel. Sie streckt die Arme aus, nähert sie dem Licht. Sie möchte verstehen, warum sie auf Erden ist. Was macht sie hier?
Sie stellt sich Fragen.
Fragen, auf die sie keine Antwort weiß.
D er Stand steht auf dem Bürgersteig, außerhalb der Markthalle. Marie wählt einen Strauß, drei fleckige rote Rosen inmitten eines Armvolls Margeriten, dazu ein paar Nelken aus einem eisernen Eimer. Daneben, ringsum, weitere Sträuße, Töpfe mit Geranien, Hortensien, überall.
Es ist nicht der schönste Strauß.
Die Blumenverkäuferin verpackt den Strauß in einer Plastikfolie, durch die man die Stiele sieht.
Marie überquert die Straße mit dem Strauß.
Die meisten Vorstellungen finden wieder statt. Die Streikenden, die noch unterwegs sind, demonstrieren im Viertel mit Schildern, die von Verrat sprechen.
Marie betrachtet sie. Es sind nur noch wenige. Bald ist es siebzehn Uhr, das Publikum wartet in einer Menschentraube vor dem Théâtre du Minotaure.
Sie geht durch den Bühneneingang hinein. Eine Vorstellung geht zu Ende, eine andere beginnt. Die Schauspieler begegnen sich. In den Gängen herrscht aufgeregtes Treiben.
Hinter einer offenen Tür repariert eine Schneiderin den Saum eines Krinolinenkleides. Gelächter. Es riecht nach Holz und Schweiß.
Marie geht weiter. Ein Mädchen mit Blumen, niemand stellt ihr Fragen. Es ist ein Theater mit drei Sälen. Die Brücke am Fluss wird im zweiten Saal gespielt.
Marie kommt durch die Kulissen. Das Bühnenbild ist aufgebaut, der Saal noch leer.
Die Bühne wirkt wie das aufgerissene Maul eines riesigen Tiers.
Hoch oben auf einer Leiter richtet ein Bühnenarbeiter die Scheinwerfer aus. Er fragt Marie, ob sie jemanden suche, und Marie zeigt ihre Blumen.
»Sie dürfen hier nicht bleiben«, sagt er.
Marie tritt zur Seite.
Es ist sonst kein Geräusch zu hören.
Sie geht durch den hinteren Vorhang auf die Bühne. Der Wandschrank, die Gläser, die Teller, der Tisch und die Stühle, alles wirkt echt. Das zerknitterte Geschirrtuch, das Radio auf dem Buffet.
Sie legt die Blumen auf die Spüle.
Die Blumen sind keine Bühnenrequisite, denkt sie.
D ie Jogar ist in ihrer Garderobe. Verärgert, beunruhigt. Wegen Marie. Und außerdem, was hat sie geritten, ihrem Vater zu versprechen, ihn am Sonntag zu besuchen …
Ihre Augen im Spiegel.
Sie muss die schlechten Gedanken verscheuchen, sie muss es tun, an nichts denken, um sich zu konzentrieren.
Pablo kommt herein. Er bemerkt ihre müden Gesichtszüge. Er sagt, alles sei bereit, sie müsse auf die Bühne.
Sie schiebt ein paar homöopathische Kügelchen unter die Zunge.
Er verlässt die Garderobe.
Sie folgt ihm.
Es ist eine Grenze, ein paar Meter Flur zwischen der Garderobe und den Kulissen. Man sieht sie an. Man weicht ihr aus.
Das Publikum hat im Saal Platz genommen.
Phil Nans erwartet sie.
» In bocca al lupo! « 10
» Crepi il lupo! « 11 , erwidert sie.
In dem folgenden Gemurmel hört sie die drei Schläge. Sie atmet langsam aus. Setzt einen Fuß auf die Bühne.
Der Vorhang öffnet sich.
Sie atmet erneut aus. Ihr Mann und ihre Kinder sind für vier Tage weggefahren, sie ist allein, eine einfache Frau aus Iowa.
Sie tritt auf.
Der Tisch, der Stuhl. Dicke Tropfen rinnen über die Wände der Karaffe. Sie zieht den Stuhl heran und setzt sich. Drückt das Glas an die Stirn. Mit der flachen Hand streicht sie die Tischdecke glatt. Die Langeweile, das Warten, die Hitze. Die Worte kommen flüssig. Nach ein paar Minuten ist das Lampenfieber verschwunden. Phil Nans tritt auf. Alles läuft gut.
Als sie zur Spüle geht, sieht sie den Strauß. Sie hatte vorher nicht darauf geachtet. Er ist dort hingelegt
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