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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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dem schauerlichen Altarbildin der Waldkapelle«, sagte er und legte eine zitternde Hand auf die Schulter seiner Frau. Dann zog er sie auf sich, und sie schaukelten eine Weile stumm hin und her. Nach und nach übertrug sich seine Trübsinnigkeit auf sie, das geschah beinahe immer, wenn sie spätnachts noch in seinen Armen lag, und sie hasste dieses Gefühl und versuchte, es durch schnellere Bewegungen und eine gespielte Wildheit zu überwinden. Es gelang ihr ein wenig, und sie begann zu keuchen. Er lag unter ihr und starrte sie mit den schwermütigen Augen eines unerfahrenen Jünglings an. Sie ritt ihn, bis sie Schmerzen in den Gelenken bekam (auch ihrem Körper hatte der Hunger arg zugesetzt). Aber die Schmerzen schienen ihr nur eine Bestätigung dafür zu sein, dass sie auf dem richtigen Weg war. Dann begann er wieder zu jammern: von den armen Kindern, von der Hungersnot, davon, dass er ein Verlierer sei, ein Versager, und dass sie fortgehen und sich einen neuen Mann suchen solle – da wurde ihr alles zu viel, dieses weinerliche Holzfällergesicht auf dem Polster unter ihr, sein einfallsloses Gerede und die Art, wie er tatenlos dalag und sich von ihr bearbeiten ließ, als ginge ihn das alles gar nichts an. Sie presste sich ganz eng an ihn – ein angenehmer Sprühregen breitete sich in ihrem Körper aus –, und sie zischte ihm ins Ohr: »Weißt du was, du … du Mann … ich werde dir sagen, was wir tun … au! … morgen früh werden wir einfach die Kinder nehmen und … ah! … in den Wald führen, wo er am dichtesten ist … und da machen wir ihnen ein Feuer … und dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein … und sie finden den Weg nicht wieder nach Ha! … nach Hause, und wir sind sie los, du elender Versager … sonst sterben wir alle vier …sonst sterben wir alle … du verdammter Schwächling, du … du …« Und sie bäumte sich auf und wurde von der lebendigen Erlösung ergriffen, sie gab einen spitzen, kurzen Schrei von sich und löste sich auf, war ein versinkendes Schlachtschiff, eine brennende Kathedrale, eine berstende Glocke am Meeresgrund – auf seiner Brust kam sie zur Ruhe, langsamer und langsamer werdend, schnaufend, atmend. Vor Erleichterung brach sie in Tränen aus. Der Holzfäller war unterdessen ganz still geworden, hatte zu weinen aufgehört und dachte auch nicht mehr daran, sich über sein Schicksal zu beklagen. Er hielt seine Frau im Arm, bis sie eingeschlafen war. »Mal sehen«, sagte er dann, als er sicher war, dass sie ihn nicht mehr hören konnte. »Mal sehen.«

Die Vase
    Der Dichter ist ein Schwindler, der so vollkommen alles spielt,
und selbst dann noch Schmerzen vortäuscht,
wenn er wirklich welche fühlt.
    Fernando Pessoa
    Man erwartete die Ankunft des Schriftstellers gegen Mittag, bis dahin wurde die Leiche seiner Mutter in einer kleinen Kammer neben der Kapelle aufgebahrt. In der letzten Nacht hatte es stark geschneit, und das Haus gegenüber dem Beerdigungsinstitut sah aus wie ein Buch, das mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten im Schnee lag. Es war nicht sicher, ob der Schriftsteller bei solchen Wetter- und Straßenverhältnissen rechtzeitig eintreffen würde.
    – Hat er wirklich gesagt, er will nur höchstens zwei, drei Minuten in der Kammer bleiben?, fragte der Bestatter seinen Lehrling. Du bist dir da vollkommen sicher?
    Der Lehrling nickte. Er war es gewesen, der das Telefonat vorgestern geführt hatte; sein Herz hatte kurz ausgesetzt, als sich am anderen Ende der berühmte Name meldete. Noch am selben Nachmittag war er in die Stadt gegangen und hatte sich ein Buch des Schriftstellers gekauft. Eine gnadenlose Auseinandersetzung mit den Folgen katholischer Scheinheiligkeit und liebloser Erziehung (F.A.Z.) stand auf der Rückseite des Umschlags.Und darunter: Wunderbar! Fünf Sterne! (Die Presse).
    Das geräumige Zimmer im Empfangsbereich des Beerdigungsinstituts, in dem die beiden Männer saßen, war seit Tagen nicht mehr gelüftet worden, da sich der Bestatter vor eiskalter Luft fürchtete. In seinem Bart hatte sich, wie der Lehrling bemerkte, eine kleine, ängstliche Winterspinne verfangen. Er machte den Bestatter darauf aufmerksam, und dieser begann, mit einem Bleistift vorsichtig in seinem Bart herumzustochern. Als er das Tier unverletzt geborgen hatte, setzte er es auf die Tischplatte und betrachtete es eingehend.
    In dem Telefongespräch hatte der Schriftsteller ausdrücklich darum gebeten, alles so zu belassen, wie man es vorgefunden hatte –

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