Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
ein äußerst seltsamer Wunsch, da niemand irgendetwas vorgefunden hatte, es handelte sich schließlich um ein Beerdigungsinstitut, wo tote Menschen in einem Kühlraum gelagert und hinterher einbalsamiert wurden, und nicht um einen Tatort. Trotzdem hatte der Lehrling am Telefon geantwortet: Selbstverständlich.
– Und er weiß, dass wir sie …?, fragte der Bestatter.
Der Lehrling versicherte ihm, mit dem Kunden alles ganz genau besprochen zu haben, und er zeigte dem Bestatter einen Zettel, auf dem er sich ein paar Notizen gemacht hatte. Der alte Mann sah sich den Zettel ebenso sorgfältig an, wie er sich vorhin die Spinne angesehen hatte, und las unter Zuhilfenahme eines Zeigefingers sogar einige Wörter ab. Dann sagte er, es sei wahrscheinlich klüger, wenn er seine Landkarten aus der Totenkammer räumte. Die stünden dort schon seit einigen Tagen herum und verbreiteten bestimmteine schlechte Atmosphäre während der Totenwache. Der Lehrling antwortete, dass er sich nicht sicher sei, ob der Schriftsteller wirklich zur Totenwache komme. Zwei bis drei Minuten seien dafür doch etwas wenig. Der Bestatter nickte, stand auf und trug die Schaufeln in seinen Schuppen. Als er durch die schneidend kalte Luft ging, blickte er zu den im Schnee versunkenen Nachbargebäuden. Da entdeckte er vor der Einfahrt ein blaues Auto mit Wiener Kennzeichen. Er beeilte sich mit den Landkarten und kam gerade rechtzeitig zurück, um den Lehrling in einer Art Habachtposition im Vorraum stehend vorzufinden. Er stellte sich neben ihn, und sie warteten stumm ein paar Minuten, aber niemand klingelte oder klopfte an. Der Bestatter murmelte etwas über Höflichkeit und Könige und ermahnte den Lehrling, nie wieder einen Termin über das Mobiltelefon zu vereinbaren, diesen Dingern sei einfach nicht zu trauen, und man müsse am Ende erst recht wieder alles im Kopf behalten. Draußen begannen die Mittagsglocken zu läuten, gedämpft von der Schneedecke und dem trüben, schmutzwäschefarbenen Himmel. Ein leises Klopfen war zu hören, und die Tür ging auf. Ein Mann mit einer teuer aussehenden Aktentasche in der Hand kam herein, ihm folgte ein kleines Mädchen, etwa acht oder neun Jahre alt. Der Mann hatte einen leichten Oberlippenbart und trug schulterlanges Haar. Er nahm seine Sonnenbrille ab, faltete die Bügel zusammen und steckte die Brille, während er den Blick nicht von den beiden Männern ließ, in das zerknitterte V seines offenen Hemdkragens.
– Guten Tag, sagte er.
Der Bestatter nahm Haltung an, stellte sich mit vollemNamen vor und nannte auch den Namen seines Lehrlings, der die Hand schüchtern zu einem Winken hob.
– Meine Tochter, sagte der Schriftsteller und deutete auf das Mädchen.
Der Lehrling winkte ein zweites Mal.
– Wo liegt sie?, fragte der Schriftsteller.
Man zeigte ihm die Kammer.
– So liegt sie schon den ganzen Tag hier drinnen, sagte der Lehrling.
Sofort fiel ihm auf, wie unsinnig diese Bemerkung war, denn es handelte sich ja nicht um eine Kranke, bei der eine Veränderung des Zustands möglich gewesen wäre. Doch gerade diese unsinnige Bemerkung schien dem Schriftsteller sehr zu gefallen, und er fragte, wie viel er den beiden freundlichen Menschen denn schuldig sei für diese kleine Gefälligkeit. Da es sich aber nicht im Geringsten um eine Gefälligkeit, sondern um eine ganz normale Vorgehensweise handelte, winkte der Bestatter ab und sagte, dass ein Mitmensch nun mal ein Mitmensch sei. Ob er damit den Schriftsteller oder dessen tote Mutter meinte, blieb unklar.
– Gut, nickte der Schriftsteller. Vielen Dank.
Und er ging, ohne zu den Männern oder seiner Tochter ein Wort zu sagen, in die Kammer und schloss die Tür hinter sich. An zwei lauten Schnappgeräuschen hörte man, wie er seine Aktentasche öffnete. Die Tochter blieb vor den beiden Männern stehen und schaute sich im Empfangsraum um. Der Lehrling bot ihr einen Stuhl an, und sie setzte sich, zog ein Knie an und berührte es mit ihrer Nasenspitze. Der Bestatter fing an, dem Lehrling ein paar kleine Arbeiten im Garten aufzutragen. Die Rosenkugeln sähen seit einigen Tagen somerkwürdig aus, fast als stammten sie von einem anderen Planeten. Er solle sehen, was er dagegen tun könne, das mache schließlich einen schlechten Eindruck auf Kunden. Das liege vielleicht daran, dass alles voller Schnee sei, meinte der Lehrling. Der Bestatter seufzte und begann, seinen bunten Schlüsselbund zu ordnen. Er löste jeden einzelnen Schlüssel von dem Ring, legte
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