Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
Schritten aus einer Trafik. Sie schimpfte laut in ihr Telefon und warf einen Geldschein mit einer Geste äußersten Ekels vor sich auf den Boden. An ihrem Unterarm pendelte eine teure Designerhandtasche, nicht dasselbe Modell wie Martinas, aber auf ähnliche Weise verunstaltet: von hässlichen, in ihrer Form an bestimmte Schlingpflanzenerinnernden Gewächsen, die schwarz waren wie die Oberfläche von Eisenmeteoriten.
    Ein Bettler, der mit seinem Hund neben der Trafik auf dem Boden saß, streckte seine Hand nach dem Geldschein aus. Als er ihn zu fassen bekam, gab er einen leisen Überraschungslaut von sich. Er zeigte den Geldschein seinem Hund, der davor zurückwich und den Kopf schüttelte. Dann begann der Bettler zu lachen, deutete auf den Geldschein und dann auf die Trafik und schließlich in keine bestimmte Richtung mehr, sein Zeigefinger vollführte einen heiteren Pirouettentanz, zeigte überallhin, auf die ganze Stadt, die ganze Welt. Sein Lachen war das schwerfällige Lachen eines starken Rauchers, heiser, gurgelnd und ein Vorgeschmack auf den Tag, da ihm die Lunge endgültig ihre Dienste versagen würde, und jedes Mal, wenn ihm die Luft ausging, musste er japsend einatmen, was ein überraschend helles Geräusch ergab, wie das eines Kameramotors, der die Filmrolle ein Bild weiterdreht.
    Nach kurzer Zeit stimmte auch der Hund mit ein.

Das Gespräch der Eltern
in Hänsel und Gretel
    Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern. Das Bübchen hieß Hänsel und das Mädchen Gretel. Der Holzfäller hatte nur wenig zu essen, und einmal, als eine große Teuerung ins Land kam, konnte er auch das tägliche Brot nicht mehr schaffen. Wie er sich nun abends im Bett seine Gedanken machte und sich vor Sorgen herumwälzte, seufzte er und sprach zu seiner Frau: »Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, wenn wir für uns selbst nicht genug haben?« »Was?«, sagte seine Frau, denn er hatte sie aus einem Traum aufgeweckt. »Ich habe gesagt, was soll nur aus uns werden?« »Wie spät ist es?«, fragte sie. »Ich weiß nicht. Gegen Mitternacht. Ich kann nicht schlafen, denn ich mache mir Sorgen um unsere Kinder.« »Ach, die werden schon irgendwie …«, murmelte seine Frau, wurde leiser und schlief gleich wieder ein. Da fing der Mann zu weinen an. »Mit meiner Arbeit verdiene ich nichts«, schluchzte er, »ich bin ein Versager … du hättest einen anderen heiraten sollen.« Davon wurde seine Frau wieder wach. Sie seufzte, setzte sich im Bett auf und erlaubte ihrem Mann, sein bärtiges Gesicht, über das dicke Tränen liefen, in ihren Schoß zu legen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie und streichelte seinen Hinterkopf, »es wird schon alles irgendwie gehen. Gottlässt uns bestimmt nicht im Stich.« »Gott!«, schnaubte der Mann, »hör mir auf mit Gott, der ist doch nur ein Windstoß hoch in der Luft, den wir gar nicht spüren. Er hat noch nie etwas für uns getan.« Etwas ratlos streichelte die Frau ihn weiter. Er ging ihr auf die Nerven, wenn er so war. Es stimmte zwar, dass sie alle Hunger litten und die Kinder immer schwächer und kränklicher wurden, aber trotzdem war sie nicht bereit, diese vollkommene Hoffnungslosigkeit, in die er in Krisenzeiten immer verfiel, zu teilen oder gar zu übernehmen. Sie wollte nicht in einer Welt leben, in der es keine Auswege gab. »Komm«, sagte sie, »schlafen wir weiter. Wir können uns ja morgen früh den Kopf zerbrechen.« »Morgen früh sind wir vielleicht schon tot«, sagte der Mann und schluchzte heftiger. Es half gar nichts, sie konnte ihn nicht beruhigen. Er war wie ein widerspenstiges Kind, das vor unsichtbaren Wesen im dunklen Zimmerwinkel Angst hat und sich deshalb weigert zu schlafen. Also drehte sie ihn sanft auf den Rücken und öffnete sein Nachthemd. Der vertraute Geruch seines abgearbeiteten Körpers, vermischt mit dem von frisch gefällten Bäumen, drang ihr entgegen. Sie küsste ihn und versuchte, ihn von seinen finsteren Gedanken abzulenken, indem sie ihre Zungenspitze um seinen Bauchnabel kreisen ließ. Warum sie darauf gekommen war, wusste sie nicht. In gewisser Weise erschien es ihr als die natürliche Fortsetzung seiner großen Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Er ließ es geschehen, fing aber nach einer Weile wieder an, von den Kindern zu reden, wie dünn sie schon seien und wie schlimm sich ihr Keuchhusten seit einigen Tagen anhörte. »Sie sehen aus wie die tanzenden Skelette auf

Weitere Kostenlose Bücher