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Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
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weißen Toilettensitz und packte das Sandwich aus.
    Gott sei Dank hatte sie auch daran gedacht, ihren iPod mitzunehmen. Sie stellte ihr Lieblingsstück aus Philip Glass’ Album Glassworks ein, ein langsames und kindlich einfaches Orchesterwerk namens Façades , und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. Die Musik wirkte wie klares, frisches Wasser, das alle Trübungen ihres Bewusstseins fortwischte. Die Melodiestimme setzte ein (war es ein Horn, war es eine Oboe?), und das einzige fremde Geräusch, das diese kristalleneWelt unterbrach, war das zufriedene Mahlen ihrer Kiefer.
    Nach einer Weile schaltete sie auf ein anderes Stück um. Ihr Finger berührte dabei etwas Kleines, Hartes auf der Oberfläche des iPod. Martina öffnete die Augen und betrachtete mit angehaltenem Atem das Gerät. Aber es war nur ein kleines Sesamkorn, das von der Semmel des Sandwichs stammte und auf dem iPod kleben geblieben war. Sie kratzte es ab und steckte es sich in den Mund. Kurz darauf wurde ihr Kauen langsamer, sie hörte ganz damit auf, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Es war nichts, auch kein falscher Geschmack, aber sie hatte für einen Augenblick daran denken müssen, wie es wäre, auf eines der trocken-porösen Geschwüre oder in eine der mit Flüssigkeit gefüllten Blasen zu beißen.
    Sie musste aufstehen und den Rest des Sandwichs ins Klo spucken.
    Am Abend desselben Tages stand Martina frierend und nackt in ihrem Badezimmer und untersuchte die Haut ihres Körpers Zentimeter für Zentimeter auf Veränderungen. Die Stellen, die sie nicht sehen konnte, betastete sie. Anschließend wusch sie sich die Hände mit Seife. Soweit sie feststellen konnte, war sie nicht befallen. Sie hatte sich umsonst Sorgen gemacht. Es lag also alles am Papier oder an den Chemikalien, die beim Druck verwendet worden waren. Schlechte Tinte, schlechtes Papier.
    Der Anblick der Beulen hatte etwas tief in ihr berührt, wer weiß, vielleicht den verschütteten Rest einer kollektiven Erinnerung an die Jahrhunderte zurückliegenden Pestepidemien in Europa. Ihre Vorfahren waren ihnenerfolgreich entronnen, sonst wäre sie heute nicht hier, und bestimmt war die begründete Angst vor solchen Geschwüren auch an sie weitergegeben worden, eingebettet in abwehrstarkes und überlebensfähiges Erbgut. Wenn irgendwo Beulen auftreten, dann lauf davon, such das Weite, raunte ihr Instinkt ihr zu.
    Erleichtert drehte sie sich um und ließ frisches Badewasser ein. Es kam nicht oft vor, dass sie morgens und abends badete. Es war Wasserverschwendung, aber heute, fand Martina, hatte sie es sich verdient. Sie schaltete die kleine tragbare Stereoanlage ein und nahm ihre Lieblings-CD in die Hand. Das Bild auf dem Albumcover von Music in Twelve Parts ließ sie aufschreien. Früher war dort der Komponist zu sehen gewesen, wie er mit einem etwas leeren Ausdruck direkt in die Kamera blickt und eine Hand an sein Ohr hält, als wollte er sagen: Hört ihr das auch? Jetzt war dort nur mehr ein Monster, kaum noch menschlich, die erhobene Hand war zu einem obszön wirkenden Kaktus mutiert, das Gesicht aufgeschwemmt und zerfressen wie nach einem Schlangenbiss. Überall waren die Beulen und Geschwüre, sie bedeckten sogar die CD selbst, was Martina besonders schmerzte, da sie nun nicht mehr in den CD-Player passte und sie sich eine neue würde kaufen müssen.
    Eine neue kaufen. Dieser harmlose Gedanke kam zuerst, dann folgte die Panik: Es war ansteckend! Sofort holte sie einen der schwarzen Müllsäcke und warf die CD hinein, auch die restlichen Visitenkarten und alles, was sonst noch befallen war.
    Am nächsten Morgen kam Gabriele zu Martina ins Büro, schloss die Tür hinter sich und stellte sich vor ihr auf.
    – Keller, du kleine Schlampe!, sagte sie, halb im Spiel, halb ernst. Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich dich hasse?
    Martina stand auf.
    – Du und deine verdammten Pestbeulen, sagte Gabriele.
    – Was?
    – Schau dir mein Portemonnaie an, Himmelherrgott. Das Zeug ist ansteckend!
    Aus ihrer Manteltasche zog Gabriele einen schwarzen Plastiksack. Er war eng um das Objekt gewickelt, das er verbergen sollte. Gabriele legte den Sack, in dem sich ihre Geldtasche befand, vor Martina auf den Schreibtisch und trat einen Schritt zurück.
    – Mach auf.
    – Was ist denn damit?
    – Mach auf. Jetzt.
    – Okay, okay.
    Schon bei der ersten vorsichtigen Berührung mit den Fingerspitzen war klar, dass der Plastiksack gar keine dumme Idee gewesen war. Der Inhalt fühlte sich

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