Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
sie der Größe nach in einer Reihe auf den Tisch und hängte sie anschließend wieder ein. Währenddessen drangen die ersten Geräusche aus der Totenkammer. Es hörte sich an wie herumfliegende Zettel, zerknülltes Papier. Irgendetwas wurde zerbrochen und die Teile umhergeworfen. Der Bestatter blickte von seinen Schlüsseln auf. Das Gesicht des Lehrlings spiegelte ebenfalls eine gewisse Beunruhigung wider.
Die Tochter des Schriftstellers gähnte und spielte mit ihren Haarlocken, die etwas zu kurz waren, um sie wie eine Telefonschnur um den Finger zu wickeln.
Jetzt fiel ein größerer Gegenstand mit einem hohlen Geräusch um. Die große Vase!, schoss es dem Lehrling durch den Kopf. Was zum Teufel machte der da drin? Es folgte ein tiefes, krächzend-gurgelndes Schaben, als würde ein zentnerschweres Objekt quer durch den Raum geschoben. Dann krachte es, Scherben splitterten überallhin. Ein lauter Fluch. Stille. Kurz darauf ging die Tür auf, und der Schriftsteller trat mit seiner Aktentasche (offen stehend, leer) heraus. In der anderen Hand hielt er ein paar beschriebene Zettel. Der Lehrling erkannte die krakelige, asymmetrische Handschrift auf den Blättern, man hatte sie auch für den Umschlag des Romans verwendet, den er sich gestern gekauft hatte.
– Entschuldigen Sie das Durcheinander, sagte derSchriftsteller und hielt die Zettel in seiner Hand in die Höhe.
Sein Mund zuckte kurz in Richtung eines Lächelns, wie bei einem galvanisierten Menschengesicht in einem Experiment des achtzehnten Jahrhunderts.
– Ich werde selbstverständlich für alles aufkommen, sagte er und überreichte dem Bestatter eine hellgrüne Visitenkarte. Alice!
Die Tochter glitt vom Stuhl und ging zu ihrem Vater. Sie streckte die Hand aus, aber da der Schriftsteller keine seiner Hände frei hatte (Aktentasche, Zettel) ließ sie sie gleich wieder sinken. Er verabschiedete sich und ging durch die Tür. Wenig später hörten sie seinen Wagen fortfahren.
– Oh Mann, sagte der Lehrling.
Der Bestatter ging zu seinem Tisch und widmete sich eingehend der Visitenkarte. Er drehte sie in seinen Fingern, betrachtete sie unter einer Lupe und betastete mit seinen Fingerspitzen die geprägten Lettern. Während er noch beschäftigt war, ging der Lehrling in die Totenkammer. Er hatte erwartet, dort ein schwindelerregendes Chaos vorzufinden, Scherben, Trümmer, zerknülltes Papier. Aber da war nichts. Der Raum sah genauso aus, wie er ihn verlassen hatte. Die Vase stand da wie immer, mit ihren pseudoaltgriechischen Darstellungen von diskuswerfenden Jünglingen, und erinnerte in ihrer Form an zwei menschliche Gesichter, die sich zum Kuss nähern. Der zentnerschwere Sarg mit der Leiche hatte sich keinen Zentimeter vom Fleck bewegt. Die einzige Veränderung, die der Lehrling feststellen konnte, war, dass die zum Gebet gefalteten Hände der toten Frau auseinandergebogen worden waren. Daswar alles. Mehr hatte der Schriftsteller nicht zustande gebracht. Nicht einmal ein kleines Stück Papier hatte er liegen gelassen. Und obwohl es für ihn gar nichts zu tun gab, ging der Lehrling in den Empfangsraum zurück, um einen Besen zu holen. Als er am Bestatter vorbeiging, sagte dieser:
– Der hat mir die falsche Karte gegeben.
– Was?
– Das da ist nicht sein Name auf der Karte. Er hat mir die falsche gegeben. Wie schlimm sieht’s denn da drin aus?
– Ach, nichts, was man nicht mit einem Besen in Ordnung bringen könnte. Zeig mal her die Karte.
Der Bestatter gab sie ihm. Tatsächlich, da stand ein fremder Name. Heribert Wolf. Lektor. Helian Verlag. Und darunter E-Mail-Adresse und Telefonnummer.
– Wolf, sagte der Lehrling. So heißt er nicht, nein.
– Ist wenigstens die Vase heil geblieben?, fragte der Bestatter.
– Die nackten Burschen? Ja, die lassen sich nicht so leicht fertigmachen, murmelte der Lehrling und gab ihm die Karte zurück.
Dann holte er seinen Besen, ging damit zurück zur toten Frau in der Kammer und schloss die Tür hinter sich. Nach kurzer Zeit drangen aus der Kammer die leisen Klirrgeräusche von Scherben, die aufgesammelt wurden, und das Rascheln von Papierfetzen, die in einen Eimer fielen. Und das leise, fürsorgliche Knarren, mit dem die Ruhe und der Ernst der Toten wiederhergestellt wurden.
Weltbild
Therese, genannt Tessa oder Tess, öffnete ein hellgelbes Browserfenster auf ihrem Laptop, schob die Mouse in eine zentrale Position auf dem mit fragezeichenförmigen Seepferdchen verzierten Mousepad und drehte sich zu mir
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