Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
bald sprach er wieder wie früher. Sogar die Sprechmelodie war dieselbe geblieben.
Ein paar Dinge fehlten, aber das war zu erwartengewesen. Er musste wieder lernen, seinen Namen zu schreiben, sich anzuziehen und mit Messer und Gabel zu essen, außerdem erinnerte er sich nur mehr vage an den Sinn und Zweck von Farben; sie sahen, fand er, alle haargenau gleich aus, und er verstand nicht, was er früher an ihnen gefunden hatte. Als er versuchte, mit einem Mobiltelefon seine Frau anzurufen, verlief er sich in einem der vielen Untermenüs, brachte das Telefon zum Vibrieren und schließlich sogar dazu, einen albernen Klingelton nach dem anderen abzuspielen. Enttäuscht und irritiert gab er es der Schwester zurück.
Es stellte sich als Glücksfall heraus, dass er seine Frau nicht erreicht hatte, denn sie lebte inzwischen mit einem anderen Mann. Die Erinnerungsfetzen ihrer Kurzbesuche neben seinem Bett bezogen sich, wie man ihm nun behutsam klarmachte, nur auf das erste Jahr. Danach hatte ihn niemand mehr besucht, mit Ausnahme seiner Mutter, die immer noch kam, jeden ersten Sonntag im Monat. Frederik weinte und fragte, ob er trotzdem seine Frau kontaktieren dürfe. Sie sei längst verständigt worden, erklärte ihm der Arzt, aber sie wolle ihn nicht sehen. Er solle sich jetzt ausschließlich auf seine Genesung konzentrieren, auf die möglichst schnelle Beseitigung der Defizite in Motorik und Koordination. Er zeigte Frederik eine Tabelle, in der verschiedene Felder grau angemalt waren. Es handelte sich um einen Zeitplan für die Rehabilitation. Hier, die roten Felder, sagte der Arzt. Aber Frederik hörte ihm längst nicht mehr zu. Er lag da und schaute zur Decke. Wenig später war er eingeschlafen, atmete friedlich und trieb traumlos dahin, bis ihn das laute Geschrei eines verwirrten Patienten aus einem Nachbarzimmer weckte.
Die Ärzte waren mit seinen Fortschritten nicht zufrieden. Und das war auch nicht weiter verwunderlich, denn Frederik tat beinahe nichts. Er ließ sich immer noch von einer Schwester bei seiner Morgentoilette helfen. Doch mit der Zeit begann er, sich mehr und mehr für seine Unselbständigkeit zu schämen, und strengte sich ein wenig an. Nach einem halben Jahr schließlich konnte er die Klinik verlassen. Er bekam einen Platz in einer betreuten Wohnanlage und lebte mit zwei anderen Männern in einem kleinen Appartement mit der Nummer 7. Seine Mitbewohner Joseph und Bernhard waren geistig behindert, und er fragte sich, wozu er sich mit diesen erwachsenen Kindern abgeben musste. Da Joseph und Bernhard immer wieder Dinge kaputt machten und selbst bei den einfachsten Verrichtungen große Schwierigkeiten hatten, verlor Frederik regelmäßig die Beherrschung. Bald wurde er in eine Einzelwohnung verlegt. Seine Wutanfälle besserten sich dadurch nicht, sondern wurden sogar noch schlimmer. Er erhielt starke Medikamente, deren Einnahme von den Betreuern streng überwacht wurde.
In seinen friedlichen Momenten bettelte Frederik darum, freigelassen zu werden. Man erklärte ihm geduldig, dass er ja frei sei. Das betreute Wohnen sei lediglich eine Übergangslösung, bis er wieder selbständig genug sei, um auf eigenen Füßen zu stehen. Er müsse wieder lernen, zu rechnen, zu schreiben, Pläne zu machen und einfache Arbeiten auszuführen. Aber all diese Dinge lagen für ihn in der Vergangenheit.
Nachdem er diesen Gedanken mit erstaunlicher Klarheit erfasst hatte, überfiel ihn eine unkontrollierbare Wut, und er zwang Joseph, den er zufällig im Gang antraf,ein rundes Stück Plastik zu schlucken. Man zerrte ihn fort und stellte ihn mit Medikamenten ruhig. Schon am nächsten Tag kam einer der Betreuer mit einem großen Klumpen Ton zu Frederik.
2
Professor Hubert Antonitsch war sehr zufrieden, denn es waren immerhin so viele Studenten zur ersten Lehrveranstaltung im neuen Semester gekommen, dass er einige wieder nach Hause schicken musste. Er würde nach dem Zufallsprinzip vorgehen.
Als die Studenten dies begriffen, wurden sie unruhig und tippten wütende SMS-Nachrichten. Nach einer halben Stunde war die definitive Anzahl der Seminarteilnehmer festgelegt: achtzehn. Professor Antonitsch ging nun zum weniger lustigen Teil über. Er stellte sich vor und zeigte den Studenten eine Overhead-Folie mit seinen bisherigen Publikationen (ein Buch und fast fünfzig Artikel in Fachzeitschriften). Die Studenten holten nun alle ihre Ringmappen aus den Rucksäcken und schrieben mit. Manche zeichneten sogar automatisch die Form der
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