Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
restlichen Wein. Nicht nur das eine Glas, sondern die ganze Flasche. Was sollte sie auch sonst tun? Es war ja niemand da, mit dem sie den Wein hätte teilen können. Sie war ganz allein, immer, jeden Tag. Er, er konnte in überheizten Seminarräumen den Hengst spielen, während sie hier in dieser viel zu leeren Wohnung langsam verrückt wurde. Vor die Tür zu gehen war auch keine Lösung, denn alle Leute schauten sie an. Sie musterten sie. Sie wussten alles.
    Ihr Leben war verpatzt, vorbei. Ulrike hasste es, wenn sie nach exzessivem Weingenuss heulen musste. Ihre Tränen waren dann immer so säuerlich. Aber sie konnte nun mal nicht anders, sie wollte leben, sie wünschte sich ein Kind, sie wollte eine lange Weltreise unternehmen, die Pyramiden sehen.
    – Aber ich werde sie niemals sehen, sagte sie und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
4
    Der Streit, der Streit, der Streit. Der fünftausendste Streit in den letzten zwanzig Jahren. Warum konnte sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Kein Sklave litt so, wie er leiden musste. Professor Antonitsch ging gelangweilt zwischen den Skulpturen des verrückten Künstlers herum, der vor kurzem an Herzversagen gestorben war. Die Studenten – zumindest jene, die aufgetaucht waren, ganze sechs – folgten ihm mit ihren Ringmappen und gezückten Kugelschreibern.
    Vom Künstler selbst gab es ein kleines Porträtbild, aufgenommen vor ein paar Monaten. Er saß auf einem Stuhl und wurde von einem Pfleger bewacht, einem kräftigen Burschen mit blond gefärbten Haaren. Frederik Waggerl stand darunter, Bildhauer.
    Die Ausstellung war eine ziemliche Enttäuschung.
    Warum musste Ulrike ihm immer wieder dieselben Dinge vorwerfen? Warum rief sie ihn alle zehn Minuten an, sogar während der Vorlesungszeiten? Ja, er kannte die Antwort, sie war sturzbetrunken und steigerte sich in dämliche Fantasien hinein. Andauernd fragte sie ihn: Warum nimmst du mich nie irgendwohin mit? Warum gehen wir nicht öfter aus? Auch darauf kannte er die Antwort. Er schämte sich mit ihr. Er hasste es, wenn sie das Gleichgewicht verlor und sich an ihm festhalten musste, er hasste es, wenn sie in Gegenwart seiner Kollegen unsinniges Zeug redete und er so tun musste,als wäre es eine intelligente Bemerkung, er hasste ihren parfümierten Hals, er hasste ihre Frisur.
    Mein Leben ist vollkommen kaputt, dachte er, während er die Skulpturen betrachtete. Die meisten stellten den menschlichen Körper in einer bestimmten Stellung oder Situation dar. Das am häufigsten verwendete Motiv waren kleine Kinder, die bestraft wurden, und Frauen, die vergewaltigt wurden, jedes Mal von sehr großen stierähnlichen Tieren, Monstern, Fabelwesen. Von Gebilden, die nur aus Hüften zu bestehen schienen. Sie waren abstoßend und widerlich. Im Grunde wunderte es ihn nicht, dass man diesen Künstler hatte wegsperren müssen.
    Die Studentin mit den langen schwarzen Haaren und dem niedlichen Kindergesicht schrieb andauernd irgendetwas auf. Professor Antonitsch fragte sich, was das wohl sein mochte. Als er neben sie trat, schaute sie auf und lächelte ihn scheu an.
    – Schreiben Sie brav mit?, fragte er.
    Sie nickte freundlich.
    – Okay, gut, sagte er und wandte sich ab.
    Elender Feigling, dachte er. Nicht einmal sinnvolle Gespräche mit einer hübschen – nein, sie war im Grunde gar nicht so hübsch. Charaktervoll, so könnte man ihr Gesicht vielleicht bezeichnen. Eigensinnige Fältchen um die Mundwinkel. Was kritzelte sie da in ihr Heft? Bestimmt Poesie, so wie all die anderen Studenten, die in Wirklichkeit Dichter waren. Lächerlich.
    Schau sich das einer an, dachte er, wie sie mit dem Gesicht ganz nah an diese Skulptur geht. Als wolle sie daran riechen. Die Skulptur zeigte ein weibliches Kind, dem ein vor Muskeln überquellender Mann mit beidenHänden den Mund aufreißt. Die Lippen des Mannes sind gespitzt. Gleich wird er in den Mund des Mädchens spucken. Ekelhaft. Aber schau sich einer diese konzentrierte Ernsthaftigkeit an, mit der sie die Figur studiert. Studieren, ja, das konnten sie. Wahrscheinlich lernte sie die Figur auswendig, füllte ihren leeren und beschränkten Verstand mit nutzlosen Details.
    Oh Gott, er musste hier raus. Sein Kopf würde gleich platzen.
    In diesem Augenblick vibrierte seine Jackentasche. Er warf einen kurzen Blick auf das Display. Ulrike. Er hob ab.
    – Was?
    – Hör mir zu, lallte sie, ich steh gerade nackt im Bad und … also entweder kommst du auf der Stelle nach Hause und beweist mir, dass du noch

Weitere Kostenlose Bücher