Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
summendem Glockengeläut, bis zu uns herauf.
Im Grunde mag ich die Stimmen von Kindern. Am Nachmittag, wenn das Schulgebäude leer ist und ich als einer der Letzten durch die Gänge auf das vor kurzem neu gebaute Eingangstor zugehe, vermisse ich sie fast. Ich liebe es, wenn ich in den Pausen ihr rührendes Geschrei durch eines der Fenster meines Büros höre. Ich liebe es, wenn auf dem Schulhof eine Rauferei entsteht und das anfeuernde Klatschen der Zuschauer immer lauter wird. Ich liebe Hohngelächter, ich liebe Winseln, ich liebe Hilferufe.
Und ich liebe fast jeden Monat eine andere Schülerin. Man muss das verstehen. Es geht allen Lehrern so. Sie reden offen darüber. Und die meisten können auch ganz gut damit umgehen. Bisher war meine Bewunderung für bestimmte Schülerinnen und in manchen Fällen auch – man muss es zugeben – die Besessenheitvon ihnen mehr oder weniger geheim geblieben, harmlose Schwärmereien, mit denen ich alleine klarkam.
Jetzt allerdings traten sie an die Oberfläche, bildeten dort üppige Blüten, und Sarah ermutigte und unterstützte mich, sie half mir dabei, dass meine Fantasien etwas Besonderes wurden, sie war die Gärtnerin meines Seerosenteichs aus unterdrückten Zwangsvorstellungen. Und sie bewies dabei ein feines Gespür für Poesie. Die Sicherheit, mit der sie bestimmte Situationen beschreiben konnte, in denen die herbe, zarte Schönheit einer verbotenen Vorstellung wie mit einer Injektionsnadel in das viel beschworene Auge des Betrachters gejagt wurde, in das heilig entzückte und überforderte Auge, in dem Bilder geboren wurden, die das Herz am Gaumen schmelzen ließen – dieses Talent war bei Sarah ebenso ausgeprägt und hoch entwickelt wie das des heiligen Arthur Rimbaud in seinen späten Gedichten und Briefen.
Auf ihre Anregung kaufte ich mir eine Kamera und nahm diese überallhin mit, wohin ich eine Schulklasse begleitete. Auf Ausflüge, auf Wandertage, auf Skiwochen. Ich war ein engagierter und leidenschaftlicher Pädagoge geworden. Meine Kollegen und auch manche Schüler machten sich über mich und meinen großen Fotoapparat lustig. Ich ließ sie reden. Solange sie mir glaubten, dass ich tatsächlich Interesse an dem winterlichen Astgewirr eines Baumes oder an dem munteren Plätschern eines Baches oder den dumpfen Schaukästen einer Insektenausstellung in einem altersschwachen Naturkundemuseum hatte, war die Welt in Ordnung.
Zuhause schauten Sarah und ich uns die entwickeltenund in manchen besonderen Fällen vergrößerten Aufnahmen an.
– Wie heißt die da?
– Das ist Dani. Sechzehn Jahre …
– Sechzehn?
– Und schon ein Flittchen.
– Darauf wäre ich nie gekommen.
Auf dem Foto konnte man sehen, wie sich das Mädchen bückte und das schwarze Ypsilon ihres Stringtangas präsentierte. Natürlich wusste sie, dass alle sehen konnten, was sie unter ihren knapp sitzenden Jeans trug, aber sie ahnte nicht, dass ich sie dabei fotografiert hatte. Im Grunde hatte ich ihr damit einen Gefallen getan, dachte ich. Sie würde mit Sicherheit noch oft in ihrem Leben fotografiert werden, und wer weiß, ob alle diese Fotografen sich so dezent im Hintergrund halten würden wie ich.
– Sie gefällt dir, oder?, fragte Sarah.
Ich antwortete nicht, sondern fuhr mit meinem Zeigefinger die schwarze Linie des Tangas nach.
– Ist es nicht unbequem, so etwas zu tragen?, fragte ich.
– Das ist die erste Frage, die dir dazu einfällt, sagte sie spöttisch. Ich glaube, du fragst dich eher, wie sie im Bett wäre.
– Vielleicht.
– Oder wie ihr Arschloch schmeckt.
– Was?
– Du hast mich schon verstanden.
– Ehrlich gesagt, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht.
– Schon klar. Feigling.
– Nein, sagte ich, ich meine, ich mag es, wenn wir uns meine Fotos anschauen und darüber fantasieren, aber das habe ich wirklich nicht gedacht, wieso –
Sie hören es selbst. Ich war immer noch in meinem Kokon versponnen. Sarah musste mich langsam daraus hervorlocken und befreien. In dieser Hinsicht ist sie wahrscheinlich der wichtigste und selbstloseste Mensch, der mir in meinem ganzen Leben begegnet ist.
– Okay, sagte sie und nahm mir das Foto weg. Ich werde das Bild in lauter kleine Teile zerreißen, wenn du es dir nicht vorstellst.
– Was soll ich mir vorstellen?
– Für Sich-dumm-Stellen gibt es eine erste Verwarnung –
Sie faltete das Bild in der Mitte und tat so, als wollte sie es entzweireißen.
– Nein, warte. Ich …
– Sag mir, wie du dir ihren
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