Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
sie wieder, seine eigene Stimme. Das hässliche Krächzen eines jugendlichen Rauchers. Er räusperte sich und schloss die Augen. Ruhig ein- und ausatmend, versuchte er zu begreifen, was gerade passiert war. Noch war es nicht zu spät, Manuela anzurufen und ihr zu sagen, dass es ihm leidtat. Aber als er die Augen nach einer Weile wieder aufmachte und das Zimmer vor sich sah, die leeren CD-Hüllen, in denen sich feine Fasern aus Sonnenlicht verfangen hatten, wusste er, dass er es nicht tun würde. Vielleicht würde ihm sein schlechtes Gewissen ein paar schlaflose Nächte bereiten, aber das war in Ordnung. Er war jetzt hellwach und würde es, solang er es aushielt, auch bleiben.
Die Blitzableiterin
oder
Éducation Sentimentale
1
Mein Name ist Felix. Das bedeutet: der vom Glück Begünstigte. Ich darf behaupten, dass es ein durchaus zutreffender Name ist, denn meine Frau und ich haben uns vor drei Jahren – nach langer, sorgfältiger Planung – scheiden lassen. Es war ein wunderbarer, verzauberter Augenblick. Einer der ersten warmen Tage im April des Jahres zweitausendundvier. Gleich nach der Scheidungsverhandlung fuhren wir gemeinsam mit der Straßenbahn nach Hause, rauchten zwei starke Joints, die ich am Morgen vor der Verhandlung im Stadtpark besorgt hatte, und gingen miteinander ins Bett. Wir liebten uns wie in alten Zeiten, wild und neugierig, Sarah war so unberechenbar und freizügig wie noch nie. Ich verstauchte mir das Handgelenk, sie trug eine blutige Lippe und einen bis tief hinein ins empfindliche Nagelbett abgebrochenen Daumennagel davon. Wir waren befreit, und wir waren glücklich, die Sonne schien zum Fenster herein, direkt auf unser Bett, und wir hatten wieder das, was sonst nur junge Menschen haben: eine ungewisse Zukunft.
Die Scheidung war die notwendige Öffnung gewesen, nach der wir lange gesucht hatten. Unsere Ehe, unser Lebenwar zu einem furchterregenden Festkörper erstarrt, zu einem rechtlich und sozial verankerten Eisblock, in dem nur schädliche Bakterien und tödliche Rachegedanken gegenüber der Welt und ihren vielen verpassten Gelegenheiten gedeihen konnten. Dreiundzwanzig Jahre lang die reinste Hölle. Es war ein Wunder, dass wir uns nicht mit Äxten gegenseitig den Schädel einschlugen. Einige Male waren wir kurz davor, schrien im Wohnzimmer aufeinander ein und rannten in entgegengesetzte Richtungen davon. Schließlich besorgten wir uns Anwälte, machten jedoch von vornherein klar, dass wir vorhatten, uns einvernehmlich zu trennen. Ich räumte ihr weiterhin das Wohnrecht in meinem Haus ein, und die Sache hatte sich. Die Anwälte stritten eine Weile miteinander, aber schließlich wurde ihnen langweilig in dem engen, ziemlich überheizten Verhandlungszimmer im zweiten Stock des Bezirksgerichts in der Radetzkystraße. Wir hatten das Gefühl, sie allesamt übers Ohr gehauen zu haben. Alle, die Richterin (eine sehr geduldige, freundliche und in ihrer lustigen Tracht äußerst befriedigt aussehende Frau), die verhältnismäßig billigen Anwälte, die Leute, die uns die Scheidungsunterlagen zukommen ließen, die Notare, die ganze Welt. Niemand ahnte, was wir in Wirklichkeit getan hatten. Wir hatten einen Zeitsprung gewagt und damit Erfolg gehabt.
Dabei waren wir kein unansehnliches Ehepaar gewesen. Sehen Sie sich zum Beispiel unsere Bilder an, das schüchterne Hochzeitsfoto, das auf dem Klavier (wo sonst?) steht – meine erwartungsvoll gespannten Schultern, Sarahs damals noch unkorrigierte Schneidezähne (wie die Skier eines ungeübten Skifahrers, in Pflugstellungbergab). Ein freundliches Foto, aufgenommen an einem sonnigen Tag im Hof eines Gasthauses. Ein rauschendes Fest mit Verwandten und mit Kindern, die im Garten Fangen spielten.
Der erste Zug von der unfachmännisch gedrehten Marihuana-Zigarette war ungewohnt, aber dennoch herrlich. Ein befreiender Lungenzug voller Rauch, voller verderblicher Partikel, die einen sofort um Jahre jünger machten. Und das Gehirn, das erleichtert alle Schranken fallen lässt und lustige Querverbindungen herstellt.
– Nimmst du wieder deinen alten Namen an?, fragte ich meine frischgebackene Exfrau, die albern kichernd neben mir auf dem Bett lag.
– Ich glaube nicht. Littmann ist immer noch besser als Brennschneider, sagte sie. Andererseits …
Sie nahm einen weiteren Zug vom Joint und ließ den Gedanken unvollendet. Schließlich entschied sie sich, meinen Nachnamen zu behalten. Und warum auch nicht, dachte ich. Die Öffnung unserer Beziehung geschah
Weitere Kostenlose Bücher