Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
nicht im Kleinen, sondern im Großen. Der Teufel steckt bekanntlich in den Details, der Erlöser jedoch in den großen Einheiten, in den Weltkarten und abstrakten Ideen.
Mit der neuen Energie ging mir auch mein elender Beruf leichter von der Hand, und siehe da, eines Tages erhielt ich die Gelegenheit, als Stellvertreter des Schuldirektors meine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Wenige Monate später starb der Direktor an einem Schlaganfall, der ihn in einem Zugabteil überrascht hatte, und ich übernahm seine Geschäfte. Ich verhalf meinen Lehrerkollegenals Erstes zu einem größeren Raucherzimmer. Seitdem lieben und verehren sie mich. Und ich kann es ihnen nicht verdenken. Ich selbst betrachte mich manchmal im Spiegel und sage mir: Da ist dir aber ein prachtvoller Fisch ins Netz gegangen. Seit unserer Scheidung lasse ich mir einen eleganten Schnurrbart stehen, der mir unter meinen Kollegen den liebevollen Spitznamen Katzenfisch eingebracht hat.
Wenn meine Kollegen in der Schule wüssten, womit ich mir die Zeit zuhause vertreibe, hätten sie mich wahrscheinlich weniger lieb und wären irritiert oder neidisch. Wahrscheinlich neidisch. Aber meine Exfrau und ich lassen nur sehr wenig über unsere Aktivitäten nach außen dringen, denn wir wohnen in einem recht konservativen Vorort von Graz, in einem von Schöner-Wohnen- Siedlungen verseuchten Tal in der Nähe des Schöckl. Unser Haus ist groß und besitzt einen eleganten kleinen Turm, der ohne Funktion ist und auf dem abends manchmal Krähen hocken und schreien. Wir haben einen Obstgarten und einen alten Hofhund namens Chillout, der seine letzten Lebensjahre glücklich auf der Wiese vor unserem Haus verbringen wird.
Kehren wir für einen Augenblick zurück zu dem großformatigen Hochzeitsfoto auf dem Klavier. Warum steht es immer noch hier?, könnte man fragen, jetzt, wo wir doch geschieden und so viel glücklicher sind. Nun, es ist eine Art Mahnmal, so wie die Bilder von Verkehrstoten, die man jungen Fahrschülern zeigt. Oder so wie der linke Teil eines Vorher-nachher-Bildes. Die rechte Hälfte ist lebendig und in Bewegung. Die linke ist zweidimensional und tot, wie das Hochglanzpapier, auf dem sie gedruckt ist. Als lebendiges Nachher-Bild haben wirendlich das Gefühl, ganz zu sein. Zwei vollendete Gestalten, nicht mehr die platonischen Apfelhälften, die einander bedürfen, um sich in einem feindseligen Universum zu behaupten.
Lassen Sie mich ein wenig von mir erzählen. Ich bin fünfundvierzig Jahre alt. Zu einem Mann bin ich herangewachsen in einer Zeit, als die Geschichte längst für beendet erklärt worden war. Alles war tot, der Roman, die Geschichtsschreibung, die Politik, das Ich, die Moral, die Liebe, die Zukunft, die Religion, die sexuelle Befriedigung. Alle diese Dinge waren tot in den späten Siebzigern, und die Geister all der toten Dinge zogen durch die Straßen, mischten sich unter die hie und da noch für irgendetwas oder gegen irgendetwas demonstrierenden Studenten oder fielen einsame Menschen an, die in einer unhygienischen Einzimmerwohnung einem vorzeitigen Drogentod entgegendämmerten.
Auch ich war längst tot, als ich schließlich erwachsen wurde. Ich war ein überholtes Paradigma, ein abgelegter Handschuh. Also heiratete ich die Frau, an die ich meine Unschuld verloren hatte. Es schien der einzige Ausweg. Aber natürlich war es gar kein Ausweg, sondern nur ein weiterer Schritt hinein ins Labyrinth. Sarah hat das früher eingesehen als ich. Sie betrog mich mit einer Frau namens Flora und steckte sich mit Gonorrhö an. Eine ekelhafte Krankheit, die zwar mit Antibiotika in den Griff zu bekommen ist, aber zur Folge hatte, dass Sarah keine Kinder mehr bekommen kann.
Man könnte sagen, dass die Gonorrhö (und ihre Spenderin, die Frau namens Flora) unsere Rettung war. Denn mit der plötzlichen Unmöglichkeit, Kinder zu bekommen, kam ein neuer Wind der Unabhängigkeit undAnarchie in unsere – damals noch: – Ehe. Wir begannen, uns Dinge zu erzählen. Das gänzlich Unmögliche rückte plötzlich in den Bereich der möglichen Fiktion und schlug dort spätnachts, wenn wir nicht schlafen konnten, seine Funken.
– Was würdest du tun, wenn wir Kinder hätten, und wir bräuchten eine Babysitterin, okay? Und dann stellt sich heraus, dass sich diese Babysitterin, während wir weg waren, auf unserem Computer schmutzige Filme angesehen hat auf unsere Kosten und dass sie seelenruhig –
– Ich würde mit ihr schimpfen, antwortete ich.
Sie müssen
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