Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes
einige Teile gegen Ende habe ich leider nicht hören können; aber davon später mehr. Meine Erinnerung setzt an dem Punkt ein, als eine der Pädagoginnen, eine sehr große, sehr hellblonde Frau eine Aufzählung besonders schlimmer Beeinträchtigungen mit dem Satz beschloss:
– Und dann gibt’s natürlich auch noch die Kinder, die blind und taub geboren werden.
Ihre Kolleginnen reagierten angemessen:
– Ah, ja, das ist schrecklich!
– Ja, entsetzlich, ich frag mich immer, wie das wohl sein muss …
– Aber nicht nur das, sagte die hellblonde Frau, manche haben dann auch noch so starken Diabetes, dass sie in den Fingern nichts spüren und auch nichts an den Zehen, und irgendwann spüren sie dann überhaupt nichts mehr, nirgends, nicht einmal mehr an der Zungenspitze.
Das alles sagte sie in einem Tonfall, als würde sie mit großer ästhetischer Genugtuung die letzten Teile eines Puzzlespiels zusammensetzen.
– Oh mein Gott!
Einige ihrer Kolleginnen schüttelten den Kopf oder legten mitfühlend eine Hand an die Wange.
– Und was man dann mit so einem Kind machen soll, ja, das ist die Frage, sagte die hellblonde Frau und vollführte eine merkwürdige Geste, die aussah, als würde sie sich mit einem imaginären Kochtopf übergießen.
Die Frauen begannen durcheinanderzureden:
– Das sind dann ja lebende Leichen, schrecklich …
– Und da kann man wirklich nichts machen?
– Aber da ist doch besser, man …
– Ja, was machst du mit so einem Kind, wiederholte die hellblonde Frau. Schaukeln kannst du es, da gibt es spezielle Becken, also extra dafür hergestellte Vorrichtungen, die den ganzen Tag automatisch vor sich hin schaukeln, aber die sind ziemlich teuer.
– Operieren kommt nicht in Frage?, wollte eine andere Frau wissen.
– Nein, was willst du denn da operieren, etwa dasKind aufschneiden und reingreifen, damit es endlich was fühlt?
– Ja, vielleicht kann man die oberste Hautschicht irgendwie abtragen oder die Nerven …
– Das ist Science-Fiction!, lachte die hellblonde Frau.
– Hm.
Ich nieste laut. Erleichtert drehten sich einige Frauen zu mir um und wünschten mir Gesundheit.
– Ich frage mich eben die ganze Zeit, ob das überhaupt noch sinnvoll ist, sagte die blonde Frau, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. Ich frage mich halt: Wem hilft das, wenn du das Kind schaukelst? Oder wenn du es fütterst oder ihm ein paar Tropfen Zitronensaft auf die Lippen fallen lässt.
– Ja, schmecken kann es ja noch!, japste eine dicke Frau. Na also!
– Aber damit ist doch nichts gelöst. Man kann nicht über den Geschmacksinn oder über den Geruchsinn kommunizieren.
– Warum eigentlich nicht? Bei Tieren funktioniert es auch.
– Aber was wird bei Tieren schon groß transportiert? Paarungsbereitschaft. Und wer wann wie lange an einem bestimmten Ort gewesen ist. Das ist doch zu wenig.
– Aber mit welchen Sinnen sollst du als Pädagogin sonst arbeiten, ich meine, man muss nun mal nehmen, was da ist. Und wenn das Kind nur schmecken und riechen kann, dann muss man halt diese Sinne beschäftigen. Sonst verkümmert das Gehirn ja vollkommen, und du … du machst deinen Job nicht richtig.
– Eben deshalb denk ich mir, sagte die hellblondeFrau, dass es wahrscheinlich keinen Sinn hat. Auch als Pädagoge musst du wissen, wann der Krieg verloren ist. In dem Kurs von der Frau Professor Leopold damals, da hat sie uns so eine Technik beigebracht, mit der man rauskriegt, ob man wirklich mit Herz und Seele bei der Sache ist oder ob man nur tut, was andere von einem verlangen. Die Technik ist ganz einfach: Man stellt sich vor, Gott hätte die Welt erschaffen, gerade erst vor ein paar Sekunden, und die ganze Menschheit würde sich an die Vergangenheit nur erinnern , obwohl sie gar nie wirklich passiert ist, und dann stellst du dir vor, wie du mitten in der Tätigkeit bist, um die es geht. Also: Gott erschafft die ganze Welt und erschafft dich gerade mitten in dieser Tätigkeit, und du verstehst das und erinnerst dich zwar an alles, was vorher war, aber du weißt gleichzeitig, dass das nicht wirklich passiert ist. Und jetzt stehst du vor der Entscheidung: Machst du mit dieser Tätigkeit weiter oder nicht? Und in diesem Fall muss ich leider sagen …
– Das kapier ich nicht, unterbrach eine Kollegin. Ich glaube, das funktioniert als Denkmodell nicht. Du bist dir sicher, dass das die Frau Professor Leopold damals gesagt hat?
– Ich hab die Mitschriften immer noch.
– Aha … Seltsam. Also
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