Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes

Titel: Die Liebe zur Zeit des Mahlstaedter Kindes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Setz Clemens J.
Vom Netzwerk:
wie war das? Du stellst dir vor, dass Gott dich mitten im Füttern des blindtauben Kindes erschaffen hat, alles vorher ist nur Illusion, und jetzt fragst du dich, ob du weitermachen sollst?
    – So ungefähr. Aber damit das Ganze wirklich funktioniert, musst du mitdenken, dass die ganze Welt miterschaffen worden ist. Mit dir, quasi.
    – Ja, okay, aber vergiss nicht, das ist nur ein Modell,das ist nicht wirklich passiert, es funktioniert, wenn überhaupt, nur als Modell und nicht als realer Vorgang. Die Frau Professor Leopold hat das sicher dazugesagt.
    – Natürlich, sagte die hellblonde Frau achselzuckend.
    – Aber entsetzlich muss es schon sein, fing die dicke Erzieherin von vorn an. Die vollkommene Hölle. Nie irgendwas zu sehen oder zu hören. Da ist es doch besser, man stirbt auf der Stelle.
    – Ja, bestätigte die hellblonde Frau.
    – Oder es ist das vollkommene Glück, fuhr die dicke Frau in etwas anderem Ton fort, ein völlig inputloses Lebewesen, das aber über ein voll funktionstüchtiges menschliches Gehirn verfügt. Vielleicht geht es ihm ja gar nicht schlecht. Vielleicht braucht man es gar nicht unbedingt als furchtbare Beeinträchtigung zu sehen, sondern eher als kleine Verschiebung der Realität, auf die man sich als Betreuerin eben einlassen muss. Geschmack und Geruch. Damit lässt sich doch arbeiten.
    – Aber wohin soll diese Verschiebung , wie du es nennst, führen? Ins Nichts?
    – Nein, wieso, eher –
    – Die Frage für mich ist nicht, wie sich das wohl anfühlt, sondern: Was sollst du machen?, schaltete sich eine Frau mit kurzen Haaren und einer lustigen, kleinen Brille ein. Was sollst du, als Pädagogin, machen?
    Die Frau mit den kurzen Haaren war es auch, die ihre Kolleginnen jetzt in einen anderen Raum geleitete. Sie wartete gar nicht ab, ob jemand ihre Frage beantwortete, sondern ging einfach los, die anderen folgten ihr.
    Man hätte das Gespräch für beendet halten können.Ich tat es auch. Ich blieb alleine sitzen und beschäftigte mich wieder mit meinen Katalogzetteln. Doch als ich die Frauen später aus dem Raum kommen sah, bemerkte ich, dass die hellblonde Wortführerin von vorhin nun von der Gruppe ein wenig isoliert war. Ihr Gesicht spiegelte eine gewisse Beunruhigung, vielleicht sogar Empörung wider. Ihr folgten einige Frauen, die einfach nur nebeneinanderher gingen und nichts sagten. Die letzten beiden, die aus dem Zimmer kamen, waren die Frau mit den winzigen Brillengläsern und die dicke Erzieherin, die inzwischen ihren Schal abgewickelt und wie eine Beute in der Faust hielt.
    Die beiden schienen sich über irgendetwas zu amüsieren.
    Neugierig, wie ich war, stand ich auf und ging ihnen einige Schritte nach. Dabei hielt ich ein großformatiges Buch in der Hand (eine Braille-Version von Winnie the Pooh ) und tat so, als suchte ich das Regal, in das es gehörte.
    – … irgendwie würdelos, verstehst du?
    – Also, das mit den Geschmacksnerven meinst du jetzt? Ja, das war tatsächlich etwas too much. Ich weiß auch nicht, was sie damit –
    – Als gäb’s eine Krankheit, bei der die einfach so absterben! Das ist doch verrückt. So weit sind wir in diesem Universum Gott sei Dank noch nicht!
    Die Damen sagten darauf noch einige andere Sätze zum selben Thema, und ich erinnere mich noch dunkel an sie. Aber man soll eine Anekdote, die vielleicht irgendwann als trostspendender Fingerhut herhalten wird müssen, immer an ihrem hoffnungsvollsten Punkt enden lassen. Und das war er, der hoffnungsvollstePunkt. Ein anderer kam nicht und wird auch nicht mehr kommen.

    Étienne Bonnot de Condillac (1714-1780), französischer Philosoph. In seiner Abhandlung über die Empfindungen (1754) stellte er sich eine Statue vor, die nur über den Geruchsinn verfügt. Ausgehend von diesem einen Sinn könne die Statue, so Condillac, jede Form der Bewusstseinstätigkeit erreichen: Ein bestimmter Geruch, der einem anderen vorgezogen wird, ergebe Gefühlsregungen wie Verlangen, Lust, Abneigung. Und durch die Ordnungsprinzipien und Hierarchien des Verstandes ergeben sich aus all diesen Gefühlsregungen am Ende sogar komplexe Denksysteme wie Ästhetik und Ethik.

Das Riesenrad
    Monika war im Sommer 2003 in das Riesenrad gezogen, nachdem sie ihr Studium der Rechtswissenschaften endgültig abgebrochen hatte. Ihre Eltern, wohlhabende Unternehmer, hatten sich bereit erklärt, ihr weiterhin finanziell unter die Arme zu greifen, und waren nicht einmal überrascht vom außerordentlich hohen Mietpreis für die

Weitere Kostenlose Bücher